Jemen: unsere Wirtschaft, unsere Arbeitsplätze, deren Tod

Ein Land stirbt und es ist allen egal

d'Lëtzebuerger Land du 24.04.2020

Ich weiß, dass in Zeiten der Corona-Seuche bei vielen Menschen die eigene Angst zum Nabel der Welt geworden ist und es vielen wichtiger erscheint, andere zu denunzieren, als wiederum anderen zu helfen. Plötzlich teilt sich die Welt für viele in die Guten, zu denen sie selbst gehören (das Erkennungssymbol ist die selbst genähte Maske), und die Bösen, die nicht zu 100 Prozent Folge leisten und gegen die man vorgehen muss. Wer kann angesichts von so viel emotionaler Beschäftigung, von Menschen verlangen, an noch etwas anderes als die eigene Haut zu denken!?

Es sind zwar mehr oder weniger immer dieselben unter uns, die sich für andere engagieren, immer dieselben, die spenden, aber wenn es um den Jemen geht, dann versiegen auch diese Stimmen. Und das schon lange vor Corona. Die Ertrinkenden im Mittelmeer lösen zumindest bei einem Teil der Bürger Entsetzen aus, der Syrienkrieg macht wenigstens einen Teil der Menschheit fassungslos, aber der
Jemen? Wo liegt der überhaupt?

Tatsächlich war die jemenitische Hauptstadt Sanaa noch bis zur Revolution von 1962, die das Imamat abschaffte, für die Außenwelt geschlossen. Es gab damals, bis auf wenige Ausnahmen am Tahrir-Platz, nur das alte Sanaa innerhalb der Stadtmauern. 50 000 Menschen lebten dort. Heute, etwa 60 Jahre später, sind es fast drei Millionen. Der Fortschritt kam mit einer verheerenden Wucht. Das alte Ökosystem, in dem sämtliche Fäkalien als Dünger benutzt, Wasser aus dem hauseigenen Brunnen geschöpft, der biologischen Abfall – es gab keinen anderen – als Futter für die Ziegen verwertet wurde, brach zusammen. Der Wasserverbrauch stieg mit jedem neuen Hahn; und das Grundwasser in den tieferen Schichten wurde weniger. Gleichzeitig liefen die Abwässer nun ungetrennt in die oberen Schichten des Grundwassers, was dessen Pegel ansteigen ließ. Irgendwann war er so hoch, dass die Fundamente der Lehmhäuser aufzuweichen drohten, weshalb die Unesco einschritt und Abhilfe schaffte. Trotz aller Neuentwicklungen blieb der Jemen eines der ärmsten Länder der Welt.

Auch politisch durchlitt das Land immer wieder Umwälzungen, die nicht zur wirtschaftlichen Stabilität beitrugen. Die Abnabelung von den britischen Kolonialherren führte zu einer Teilung des Landes. Im Süden gab es ab 1970 die Demokratische Volksrepublik Jemen, die sich an die Sowjetunion hielt und im Norden blieb die Arabische Republik Jemen bestehen, die jedoch von den royalistisch orientierten Stämmen bekämpft wurde, die ihrerseits wiederum von Saudi-Arabien unterstützt wurden. 1990 kam es, ähnlich wie in Deutschland, zur Wiedervereinigung der beiden Teile. Seitdem schaffte der Jemen es immer dann in westliche Medien, wenn ein Ausländer von einem der Stämme entführt worden war, weil diese die korrupte Regierung in Sanaa zwingen wollten, Geld für Schulen oder Straßen bereitzustellen. Oder aber die westlichen Regenten gefielen sich darin, das Land telegen als Vorzeigedemokratie im arabischen Raum zu präsentieren, was die jemenitischen Intellektuellen angesichts der Repression der Presse, der Bestrafung bei Verletzung von Tabu-Themen oder der Behinderung der Arbeit von NGOs nur den Kopf schütteln ließ.

Auch als 2004 der Konflikt zwischen den zaiditisch-schiitischen Anhängern des Rebellenführers Hussein Badreddin al-Huthi und der sunnitischen Regierung in Sanaa ausbrach, war das für die Berichterstattung kaum weltbewegend. Die „Huthis“ im Norden des Landes fühlten sich unterdrückt, für Präsident Saleh hingegen mussten sie bekämpft werden, weil sie das Imamat von 1962 wiedererrichten wollten. Seitdem gab es immer mal wieder Feuerpausen, aber beendet wurde dieser Bürgerkrieg nie, so dass er sich ab 2015 schließlich über das ganze Land ausbreitete.

Als ich im Dezember 2008 auf Einladung des Deutschen Hauses nach Sanaa flog, hatte man sich erneut auf eine Waffenruhe geeinigt. Aber auch damals gab es schon Beobachter, die von einem Stellvertreterkrieg sprachen, da Saleh von Saudi-Arabien und die Rebellenarmee – Beweise gab es hierfür keine – von Iran unterstützt wurde. Zudem war die Terrororganisation al-Quaida seit mehreren Jahren im Jemen aktiv, was die Situation nicht vereinfachte. Aber wie immer ist ein Land mehr als seine Regierung, mehr als seine politische Gespaltenheit. Die Menschen, die dort lebten und denen ich begegnete, wollten Frieden für ihr Land, hofften, auf Vermittlung durch andere Staaten, auf eine Berichterstattung jenseits von Entführung, Anschlägen und Bürgerkrieg. Womöglich läge das Land heute nicht im Sterben, hätte man sich in Europa jener Rufe angenommen.

Sanaa mit seinen mehrstöckigen Lehmhäusern ist nicht nur die schönste Stadt, die ich auf all meinen Reisen bislang gesehen habe, nein, auch die Gastfreundschaft der Jemeniten war überwältigend. Täglich wurde ich auf der Straße angesprochen, eingeladen in die häuslichen vier Wände. Die Menschen wollten wissen, wie das Ausland auf ihre Heimat blickt, was sie tun könnten, um das Bild zurechtzurücken. Ich bin dort so gut, so oft und unmittelbar aufgenommen worden, wie es ein Jemenit in Luxemburg oder Deutschland niemals erleben würde. In diesem Land wurde mir gerade deshalb bewusst, wie wichtig der interkulturelle Dialog ist, das Hinterfragen der Verbote, der Vorurteile.

Wieder zu Hause verfolgte ich die sich anbahnende Katastrophe. Schnell war klar, dass der „Arabische Frühling“ zwar den seit 33 Jahren an der Macht klebenden Präsidenten zum Rückzug gezwungen hatte, dass sich mit seinem Nachfolger Abed Rabbo Mansur Hadi aber nicht viel ändern würde. Auch der Konflikt mit den Huthis blieb ungelöst. Die Folge: 2015 übernahmen die Rebellen offiziell die Macht in Sanaa und lösten das Parlament auf. Seitdem wird von der Allianz – zu der die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar, Ägypten, Jordanien, Senegal gehören, um nur einige zu nennen –, unter der Führung von Saudi-Arabien fleißig bombardiert. Die Waffen, vom Maschinengewehr bis zum Airbus-Tankflugzeug, kommen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA. Letztes Jahr wurde von Menschrechtsorganisationen Strafanzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt. Im Fokus europäische Rüstungsunternehmen. Wie immer: unsere Wirtschaft, unsere Arbeitsplätze, deren Tod. So what?

Vor etwa zwei Jahren luden zwei jemenitische Schriftsteller, Osama Althary und Galal Alahmadi, einige deutschsprachigen Autoren nach Langenbroich ins Heinrich-Böll-Haus ein, wo sie seit einiger Zeit Asyl gefunden hatten. Da sie davon ausgingen, dass kaum einer der Kollegen ihr Land je besucht hatte, war ihnen die Idee gekommen, Fotos von Sanaa an eine Wand zu hängen. Als ich mir die Bilder ansah, entdeckte ich auf einem Foto das Haus, in dem ich damals gelebt hatte. Es stand noch, die Häuser daneben waren weggebombt worden. Genauso wie Schulen oder Krankenhäuser. Dabei war das Gesundheitssystem im Jemen noch nie auf der Höhe der Zeit gewesen. Und der Jugend-Minister der Huthis hatte bereits im Vorjahr auf Facebook gepostet, es sei die Stunde gekommen, die noch existierenden Schulen zu schließen und die Kinder in den Krieg zu schicken.

Ärztliche Hilfe gibt es dort, wo einige Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen helfen. Die Cholera grassiert mal mehr mal weniger. Ein Großteil der Bevölkerung ist unterernährt; bis zu 80 Prozent der 28 Millionen Jemeniten abhängig von humanitärer Hilfe. Dafür hat das Welternährungsprogramm gerade aus Geldmangel seine Mittel für den Jemen um die Hälfte gekürzt. Wie viele auf der Flucht sind, weiß niemand. Es interessiert auch niemanden, denn diese Flüchtlinge kommen nicht raus aus dem Jemen und damit nicht nach Europa. Also Schwamm drüber.

In all diesen Jahren ist der Konflikt immer undurchsichtiger geworden. Durch das permanente Wegsehen seitens westlicher Politik, durch das permanente Ignorieren der Medien (es gibt Ausnahmen) konnten sich nach und nach und in aller Ruhe immer neue Gruppen bilden, die sich an dem Kämpfen beteiligen. Keiner dieser Vereinigungen geht es um das Land und die Bevölkerung, sondern allen um Eigeninteressen. Der Begriff „Stellvertreterkrieg“ greift viel zu kurz, denn auch der alte Konflikt Norden gegen Süden ist so aktuell wie nie. Überall schießen fundamentalistische Splittergruppen aus dem Boden und versuchen sich zu etablieren. Die Stämme schließen sich mal dieser, mal jener Partei an. Selbst der alte Präsident Saleh hatte vor seinem Tod begonnen, mit seinen einstigen Feinden, den Huthis, zu paktieren, um seinen Nachfolger Hadi zu stürzen und wieder an die Macht zu kommen.

Und Europa schaut weiterhin weg, liefert Waffen und verdient.

Wäre es nicht an der Zeit, sich des Jemen zu erinnern? Auf politischer Ebene, auf medialer Ebene. Wäre es nicht an der Zeit, für einen Journalismus jenseits der Effekte, für eine Berichterstattung, die breit gefächert ist und auch dorthin schaut, wo der Hype gerade nicht stattfindet? Das inflationäre Geschreibe über Corona hat längst einen Grad erreicht, der kaum Neues zu Tage fördert, dafür die Bevölkerung mit Panik überzieht. Was macht unsere demokratische Gesellschaft denn aus? Was sind unsere Werte? Ist es angebracht, sich über angebliche Corona-Partys zu echauffieren, die es so vielerorts nie gab und die sich auf Nachfrage bei den Behörden – zumindest in Deutschland – immer wieder als
Fakenews herausstellen? Oder ist es wichtiger, darauf aufmerksam zu machen, dass in anderen Teilen der Welt Dinge passieren, die man durch politischen Druck vielleicht ändern könnte? Das Ausblenden des Elends, wie es sich im Jemen zeigt, führt nicht nur zu einer Begrenzung der Wahrnehmung, sondern zu einer Verschiebung von Realität. Wer sich der Flüchtlingslager in Griechenland bewusst ist, der Bomben auf Idlib, der Umstrukturierung Ungarns in eine Diktatur, um nur diese drei Beispiele zu nennen, findet gar keine Zeit, die eigenen Corona-Pferde durchgehen zu lassen und emotional zu hyperventilieren.

Ironischerweise ist es nun gerade die Angst vorm Coronavirus, die die Allianz um Saudi-Arabien am 9. April 2020 bewogen hat, erneut die Waffen für vierzehn Tage (!) schweigen zu lassen. Die Seuche ist auch im Süden der Arabischen Halbinsel angekommen, denn im Hadramaut gab es den ersten positiv getesteten Fall. Selbst die Kriegstreiber sind sich bewusst, dass nach der Zerstörung der Krankenhäuser und angesichts des schlechten Gesundheitszustandes der Bevölkerung eine Covid-19-Pandemie das Ende bedeuten würde.

Spende-Möglichkeiten: Unicef (unicef.lu), Ärzte ohne Grenzen (msf.lu) oder Welthunger-Hilfe (welthungerhilfe.de).

Guy Helminger
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