Im Epizentrum der größten Katastrophe in der jüngeren Geschichte Chinas

Die angepasste Erzählung von Wenchuan

Ein Besucher in der Gedenkstätte des Erdbebens von Wenchuan, China
Photo: Boris Loder
d'Lëtzebuerger Land du 17.04.2020

Vermehrt machen sich dieser Tage Zweifel an den offiziellen Zahlen der Covid-19-Erkrankungen in China breit. Etwas mehr als 3 300 Todesopfer soll das laut chinesischer Regierung aus den USA importierte Virus nach der Anfang April aktualisierten Zählweise (Stand 1.4.2020) gefordert haben. Meldungen darüber, dass allein in Wuhan die Krematorien einen Tagesbedarf an 500 Urnen aufweisen, legen eine um ein Vielfaches höhere Opferzahl nahe1.

Die Corona-Krise ist dabei nur eines von mehreren Beispielen für Zahlendiskrepanzen und für Anpassungen in den offiziellen Erzählungen, die von der chinesischen Informationspolitik verbreitet werden. Als größte Katastrophe in der jüngeren Geschichte Chinas gilt das „Große Erdbeben von Wenchuan“, das am 12. Mai 2008 um 14.28 Uhr Ortszeit mit einer Stärke von 7,9 auf der Richterskala die Region Sichuan verheerend erschütterte. Das Epizentrum konnte entlang einer tektonischen Verwerfungszone zwischen Tibet-Plateau und Sichuan-Becken im Südwesten des Landes lokalisiert werden; das Beben war noch bis Peking zu spüren. Nahezu 70 000 Menschen kamen in der Region ums Leben, knapp sechs Millionen wurden obdachlos, da 80 Prozent des Gebäudebestands zusammengebrochen waren.

Am Rande eines fotografischen Austauschs in den Bergen von Sichuan Ende letzten Jahres bestand die Möglichkeit, das Epizentrum dieses Erdbebens zu besuchen. Der Guide, neben dem Fahrer ständiger Begleiter, erklärt, zwar habe man die Stadt Wenchuan unter massivem Einsatz von Manpower innerhalb von nur vier Jahren wiederaufgebaut, jedoch habe der Wiederaufbau länger gedauert als in den entlegeneren Dörfern, sofern diese nicht ohnehin aufgegeben wurden. In der gesamten Region ist zu sehen, weshalb das Erdbeben als Naturkatastrophe mit den meisten Folgekatastrophen gilt: Nahezu an jedem Hang finden sich kleine bis sehr große Bergstürze, die oft instabile, brüchig aussehende Felswände freilegen. Links und rechts der auf schnell wieder hochgezogenen Betonstelzen gestützten Autobahn fällt der Blick auf zugeschüttete Seitentäler, auf einen eingeschlagenen Staudamm, der angesichts der gigantischen Felsbrocken wie eine Miniatur wirkt. Felsbrocken in Vorgärten und frisch beschädigte Häuser zeugen in einem Straßendorf von einem kürzlich erfolgten Felssturz. Der Fahrer muss einige Kilometer talabwärts einer Schlammlawine ausweichen, die unmittelbar zuvor Häuser und Fahrzeuge in Mitleidenschaft gezogen hat.

Bei der Mittagspause in Wenchuan finden sich hingegen keinerlei Spuren des Erdbebens; dem in kürzester Zeit wiederhergestellten Gebäudebestand sieht man das junge Alter angesichts der Patina auf den Fassaden nicht an. In Yingxiu, 50 Kilometer abwärts des Min-Flusses, zeigt sich dagegen ein anderes Bild. Hier wurden die Ruinen der Xuankou-Mittelschule als Gedenkstätte erhalten.

Ehe man die eigentliche Gedenkstätte erreicht, gelangt man auf einen großzügig gestalteten Vorplatz, versehen mit einem Gedenkstein, der von der ausladenden roten Flagge der Kommunistischen Partei gekrönt ist. In der goldenen Inschrift auf dem Parteidenkmal wird der heroische Einsatz der Parteimitglieder hervorgehoben, die sich an vorderster Front der Aufräumarbeiten nach dem katastrophalen Ereignis angenommen haben.

Nur wenige, ausnahmslos chinesische Besucher sind an diesem Morgen gekommen, so dass das breite Eingangsportal ähnlich überdimensioniert wirkt wie die Steinflagge. Die wie krumme Kartons aus der Landschaft ragenden Gebäude, deren bizarr zueinander angewinkelte Dächer schon von Weitem zu sehen waren, erschließen sich hier im apokalyptischen Panorama. In der Mitte liegt, wie zerbrochen, ein marmornes Ziffernblatt, das 14.28 Uhr anzeigt, darunter eine Inschrift mit dem Datum.

Beim Rundgang zwischen den verschiedenen Gebäuden zeigt sich, dass einzelne zwar von massiven Rissen durchzogen, aber intakt sind, während ein Unterrichtsgebäude fast wie ein Kartenhaus zusammengebrochen ist. Die verstreuten Touristen unterhalten sich lautstark, posieren für Selbst- und Familienporträts, lassen Drohnen aufsteigen. Hinweisschilder mahnen zu Respekt und verbieten zu lachen. Der Blick durch die Fenster der Klassenzimmer fällt auf verstreutes Unterrichtsmaterial und zerbrochene Einrichtung. Trotzdem bleiben die dramatischen Szenen, die sich hier abgespielt haben, in der monumentalen Stille, die von diesen Ruinen ausgeht, schwer vorstellbar.

Dass ausgerechnet eine Schule als Mahnmal gewählt wurde, kann als politisches Zugeständnis betrachtet werden. Nach offiziellen Zahlen waren unter den 70 000 Opfern des Erdbebens über 5 000 Kinder. Früh wurden Stimmen laut, die diese Zahl als unrealistisch niedrig kritisierten. Schätzungen anhand lokaler Einzelberichte legen eine Zahl von circa 9 000 Kindern unter den Opfern nahe. Der Künstler Ai Weiwei erarbeitete 2009 angesichts der Frustration über Zensur und Kontrolle dieser Zahlen ein Projekt mit dem Titel Remembering, das auf Basis eigener Recherchen die Namen der minderjährigen Opfer sammelte – eine Arbeit, die ihn nach eigenen Angaben für die Regierung „zum gefährlichsten Mann Chinas“2 machte. Unter den Angehörigen machte sich indes immer lauterer Protest breit über die schlechte bauliche Qualität öffentlicher Gebäude im Erdbebengebiet, insbesondere von Schulen.

Zeitgleich geriet die Regierung auch von Seiten der Wissenschaft unter Druck. Fan Xiao, Chefinge-
nieur des Sichuan Geology and Mineral Bureau, legte nahe, dass das Erdbeben mit hoher Wahrscheinlichkeit einen anthropogenen Auslöser hatte. Eine Studie der Columbia University kam im Jahr nach der Katastrophe zur selben Einschätzung3.

Folgt man dem Min-Fluss weitere 20 Kilometer, gelangt man an einen der 400 hydroelektrischen Dämme im Erdbebengebiet. Mit einer Höhe von 155 Metern und einem Wasservolumen von 315 Millionen Kubikmetern im Stausee ist der Zipingpu-Damm zwar durchaus beeindruckend, wirkt jedoch im Vergleich zum Drei-Schluchten-Staudamm mit 39 300 Millionen Kubikmeter Volumen eher zwergenhaft. Dennoch sollen die Wassermassen des 2004 gefluteten Tals laut Forschern ausgereicht haben, den Druck in den Tiefen der nur 500 Meter entfernten Longmenshan-Verwerfungszone, entlang der die Indische Platte sich in die Eurasische Platte schiebt, um 0,5 Bar zu erhöhen. Darüber hinaus wirkt das in die Tiefe gepresste Sickerwasser wie ein Gleitmittel im Gestein. Zusammenhänge mit Wasserreservoiren haben sich schon bei anderen Beben, etwa in Indien, ergeben.

Zwar zeigen alle Erkenntnisse, dass das Erdbeben die Folge einer angestauten Spannung war. Jedoch sprechen zeitliche und räumliche Koinzidenz dafür, dass dieses Ereignis, das laut Forschern auch erst in zehn, hundert oder noch mehr Jahren hätte stattfinden können, durch die Wasserlast des Stausees vorzeitig induziert wurde. Wie der deutsche Forscher Christian Klose sagte, wurde und wird durch das großzügige Auffüllen der tiefen Täler der Region an der „Erdbeben-Uhr“ gedreht4. Chinesische Kollegen Kloses äußern sich anonym. Übereinstimmende Untersuchungen werden unter Pseudonym veröffentlichtet, da die Forscher Zensur und Repression der Regierung fürchten müssen, nach deren offizieller Lesart das Erdbeben auf rein geologische Ursachen zurückzuführen ist.

Die Fahrt um den See zieht sich hin. Es bleibt Zeit für einen kurzen Zwischenstopp und ein paar Fotos der Autobahnbrücke, die sich quer über den Stausee erstreckt. Die Frage, ob sich auch beim Staudamm eine Foto-Pause einrichten ließe, verneint der Guide nach kurzer Absprache mit dem Fahrer. Das sei mangels Parkplätzen leider nicht möglich.

1 www.spiegel.de/politik/ausland/corona-faelle-in-china-pekings-zweifelhafte-zahlen-a-295ef443-5df3-406b-acff-360746eb27be

2 www.theguardian.com/artanddesign/2018/feb/15/ai-weiwei-remembering-sichuan-earthquake

3 www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/china/4434400/Chinese-earthquake-may-have-been-man-made-say-scientists.html

4 www.spiegel.de/wissenschaft/natur/china-stauseen-sollen-erdbeben-in-sichuan-verursacht-haben-a-896205.html

Boris Loder
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