Immer mehr Düdelinger suchen Hilfe in der Maison sociale. Vor allem Wohnungsnot und steigende Mieten setzen ihnen zu

Druck im Kessel

Dudelange
d'Lëtzebuerger Land du 03.03.2017

„Ich hatte zwei Schlaganfälle hintereinander und konnte von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten. Dann haben sie mir irgendwann den Strom abgestellt.“ Ihre Mutter, zu der sie kein gutes Verhältnis hat, besuchte sie nicht einmal im Krankenhaus. „Hilfe fand ich bei Freunden“, sagt die Frau und zeigt auf die weibliche Begleitung, die im neonerleuchteten Wartezimmer neben ihr sitzt. „Und hier, im Sozialamt der Gemeinde.“

Zwei Mal im Monat kommt die 60-jährige Düdelingerin in die Rue de Commerce ins Zentrum, um sich mit ihrer Sozialarbeiterin zu besprechen. Unbezahlte Rechnungen hatten sich zu einem Schuldenberg aufgetürmt. Seitdem sie mit Hilfe der Schuldnerberatung einen Finanzplan erstellt hat, bekommt sie ihre Invalidenrente übers Amt, minus einem Teil, der zurückbehalten wird, um ihre Schulden zu bedienen. Genauer gesagt, erhält sie eine Bescheinigung, die ihren Anspruch auf je zweimal 350 Euro bestätigt. Die Auszahlungsstelle befindet sich im Rathaus, etwa 500 Meter die Straße hinab. „Leider muss man dafür das Gebäude wechseln“, sagt sie.

Im Juni war das Sozialamt aus dem zweiten Stock des Rathauses in die hellen Räume des renovierten Hauses gezogen. Mit umgezogen sind die Schuldnerberatung und der Service régional d’action sociale, der zu Wiedereingliederungsmaßnahmen berät. Wer Arbeit sucht, wer eine Wohnung braucht, kann sich an die freundlichen Mitarbeiter wenden. Die Jugend- an Drogenhëllef bietet neuerdings zwei Mal im Monat Sprechzeiten an. „Die Beratungen sind zentral an einem Ort. Das verkürzt den Weg, zudem ist das neue Lokal diskreter“, beschreibt Romy Rech, Leiter des Sozialamts und LSAP-Gemeinderat, den Vorteil der neuen Räumlichkeiten.

„Ich frage nicht gerne nach Unterstützung. Wer tut das schon?“, sagt die Besucherin und schaut nervös auf die Hände. Vor ihrem Zusammenbruch hatte sie als Putzfrau gearbeitet. Sie zieht den Kragen ihres Pullovers beiseite. Unter der Haut, knapp unterm Schlüsselbein, zeigt sich eine Beule. „Herzschrittmacher“, sagt sie kurz. Ihre Begleitung fällt ihr ins Wort. „Neulich hab’ ich in ihren Kühlschrank geschaut. Der war komplett leer. Ich bin mit ihr Einkaufen gefahren. Sie hat etwas für ihren Sohn ausgesucht. Dann hat sie geweint.“

Schamgefühle plagen viele, wenn sie aufgrund eines Schicksalsschlags oder einer Lebenskrise auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Dabei sind sie nicht allein. Seit der Wirtschaftskrise hat die Zahl der Armen stetig zugenommen, beim Arbeitsamt Adem sind rund 800 Düdelinger arbeitssuchend gemeldet, die Armutsquote der heute 20 508 Einwohner zählenden Gemeinde lag 2015 bei knapp 16 Prozent. Die wachsende Not lässi sich an den Zahlen des Sozialamts ablesen: Zwischen 2011 und 2015 kamen 5 160 Besucher, im Jahr 2015 wurden 1 080 neue Kontakte registriert. „Oft ist es Arbeitslosigkeit oder Krankheit, warum jemand zu uns kommt“, sagt Sozialarbeiterin Corinne Guidoreni. „Im schlimmsten Fall können sie die Miete nicht bezahlen, Kredite nicht bedienen und wissen nicht mehr weiter.“ Ein gutes Fünftel aller 2015 beim Fonds national de solidarité angefragten Hilfen aus Düdelingen waren Hilfen zum Lebensunterhalt. Auch die Zahl der RMG-Antragsteller in der Gemeinde stieg: von 58 auf 70.

Mehr Düdelinger beantragen zudem beim Amt (finanzielle) Unterstützung bei der Wohnungssuche. Der Preisdruck auf dem Wohnungsmarkt macht vor der drittgrößten Südgemeinde nicht Halt. 1 200 Euro und mehr für eine 90-Quadratmeter-Wohnung sind nicht außergewöhnlich. Anhaltendes Bevölkerungswachstum und der Uni-Standort in Esch-Belval sorgen dafür, dass immer mehr Arbeitnehmer und ihre Familien ins Minette-Gebiet ziehen. Die Wartezeiten für eine der 110 Mietwohnungen des Fonds du Logement (FDL) in Düdelingen betragen drei und mehr Jahre. Großfamilien und Alleinerziehende haben Vorrang, so wie die junge Frau mit dem geblümten Kopftuch, die ebenfalls im Empfangsbereich auf ihre Beraterin wartet. „Ich hatte für mein Baby die Arbeit aufgegeben. Dann bekam ich Krebs,“ erzählt die Wahl-Düdelingerin auf Französisch. Als ihr Partner sie verließ, vermittelte eine Sozialarbeiterin ihr eine kleine Wohnung des FDL in Düdelingen. „Jetzt hoffe ich, dass mich mein neuer Arbeitgeber übernimmt“, sagt sie und die Erleichterung über den gelungenen Start in einen neuen Lebensabschnitt ist ihr anzusehen.

Alleinstehende und Alleinerziehende machen rund 60 Prozent der Besucher der Maison sociale aus. Sie und ihre Kinder tragen landesweit das größte Armutsrisiko, Düdelingen bildet da keine Ausnahme. „Bei Frauen ist es oft eine Trennung oder Scheidung. Wenn sie kein eigenes Einkommen haben, riskieren sie auf der Straße zu stehen“, sagt Sozialarbeiterin Tamara Cozzi. Um sich eine Wohnung zu leisten, müssen sie arbeiten, aber wer passt dann aufs Kind auf? Die LSAP-Führung unter dem 2014 auf Vorgänger Alex Bodry folgenden Bürgermeister Dan Biancalana treibt zwar den Bau von Betreuungsplätzen voran; die Maison relais in der Gaffelterstraße wurde um 50 Plätze erweitert, eine Crèche im Viertel „Italien“ ist bald bezugsfertig. „Doch bei der Kleinkindversorgung klafft eine Lücke“, sagt Michèle Kayser-Wengler. Die CSV-Gemeinderätin ist Kinderärztin: „Ich sehe jeden Tag Eltern in der Praxis und kenne ihre Nöte.“ Die LSAP sei für den „absoluten Nachholbedarf“ verantwortlich, sagt die Oppositionspolitikerin.

Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum wird zunehmend zum Politikum: Kaum eine Gemeinderatssitzung, bei der nicht das Thema auf der Tagesordnung steht. Und obwohl die LSAP in der traditionell sozialistischen Hochburg mit bequemer Mehrheit regiert, ist eine gewisse Nervosität bei den Verantwortlichen spürbar. „Ja. Wir brauchen insgesamt mehr bezahlbaren Wohnraum. Aber als Maison sociale kümmern wir uns um die, bei denen die Not am größten ist. Ihnen bieten wir zusätzlich Beratung und Begleitung“, betont Romy Rech. 37 eigene Mietwohnungen besitzt die Stadt, dazu zählen Notwohnungen für den Fall, dass jemand wegen Feuer oder ähnlichem plötzlich Wohnungslosigkeit droht. Bis zu drei Jahre können Bedürftige eine Gemeinde-Sozialwohnung mieten, in der Zwischenzeit helfen Sozialarbeiter den Betroffenen, ihre Lebenssituation so zu stabilisieren, dass sie wieder Arbeit finden und – hoffentlich bald – eine bezahlbare Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt.

Anders als die Nachbargemeinde Esch, die seit vielen Jahren in den Mietwohnungsbau investiert, Wohnraum aufkauft und vermietet, sind Mietwohnungen in Düdelingen vergleichsweise rar: Laut Statec wohnen rund 75 Prozent der Düdelinger in ihren eigenen vier Wänden. Selbst aktiv Wohnraum aufzukaufen, hat die Gemeindeführung lange Zeit versäumt, beziehungsweise nicht in dem Umfang getan, wie es nötig gewesen wäre, um die steigende Nachfrage insbesondere nach bezahlbarem Wohnraum für Menschen mit schwachem Einkommen zu befriedigen. Das ist zum Teil historisch bedingt: Als das kleine Bauerndorf durch den Stahlboom in der Wende des 20. Jahrhunderts zu einem der führenden Industriestandorte Luxemburgs heranwuchs, war es die Arbed, die die urbane Siedlungsentwicklung vorantrieb und für die Unterkunft der Arbeiter sorgte (oft mehr schlecht als recht). Unter Führung des Stahlkonzerns entstanden im Schatten der Hochöfen Arbeitersiedlungen wie das Brill-Viertel oder das quirlige Italien. Auf die Italiener folgten die Portugiesen, vielen gelang es, sich eine Existenz aufzubauen.

Aber ganz verschwanden Armut und Wohnungsnot aus der Südgemeinde nie. Nach der der Schließung des letzten Hochofens 1984 setzte die LSAP-Führung vor allem auf den Fonds du Logement, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Im Stadtviertel Nei Schmelz auf der ehemaligen Arbed-Industriebrache, wo tausend Wohnungen entstehen sollen, ist der FDL vorn mit dabei. Allerdings hat sich der Staat erst im Sommer dazu durchgerungen, das 32 Hektar große Gelände zu kaufen, nach zähen Verhandlungen über die notwendige Sanierung. Die geplanten Büros, Filmstudios und Wohnungen stehen frühestens ab 2030 zur Verfügung. Weitere Siedlungsprojekte sind Lenkeschléi (240 Wohneinheiten) und Am Duerf (104 Wohnungen). Die Gemeindeverantwortlichen betonen, damit den „sozialen Mix“ zu fördern: Doch die Preise, die in Annoncen von Wohnungsagenturen wie athome.lu zirkulieren, liegen bei bis zu 955 000 Euro für ein Haus oder 500 000 Euro für eine Wohnung. Selbst Familien, in denen beide arbeiten, können das kaum aufbringen. Viele sind daher einige Kilometer weiter auf die andere Seite der Grenze ins französische Volmerange oder Zoufftgen gezogen. Doch auch dort ist bezahlbarer Wohnraum knapp.

Die Gemeinde hat etliches unternommen, um attraktiv für neue Geschäfte und Betriebe zu werden und den Arbeitsplatzverlust durch die siechende Stahlindustrie wenigstens teilweise aufzufangen. Das Stadtzentrum wurde modernisiert, ein neues Verkehrskonzept mit Parkraum-Management und E-Leihfahrrädern soll den Verkehrsfluss regulieren. Aber was nützt das urbane Flair, wenn sich die Bewohner das Leben in der eigenen Stadt nicht mehr leisten können? „Ich habe einen Sohn, der ist 28 Jahre alt. Der wohnt noch bei mir zuhause. Selbst wenn er ausziehen wollte, könnte er sich keine eigene Wohnung leisten“, beklagt die 60-jährige Düdelingerin.

Im Grand Hotel am Bahnhof sind zwölf Wohnungen für Studenten entstanden; zusätzlich sollen in den kommenden Jahren für rund 1,6 Millionen Euro neun Apartments für Doktoranden entstehen. „Das ist angesichts der Nähe zur Uni keine schlechte Idee, aber warum nicht für junge Einheimische bauen, die hier Start-ups gründen wollen?“ fragt Michèle Kayser-Wengler. Viele gebürtige Düdelingen würde nach Ausbildung und Studium gerne zurückkommen, „ortsstabil“ nannte der Saarländer Historiker Heinz Quasten diese Heimatverbundenheit in seinem Buch Die Wirtschaftsformation der Schwerindustrie im Luxemburger Minett von 1970.

Rechs Parteikollege, der Sozialschöffe René Manderscheid, verweist zudem auf die Investitionen in die öfffentliche Daseinsvorsorge: „Wir schaffen Arbeitsplätze.“ Die Gemeinde ist einer der größten Arbeitgeber vor Ort, mit eigener Müllabfuhr, Putz- und Gärtnerkolonnen, Parkwächtern sowie einer lokalen Beschäftigungsinitiative (CIGL). „Die Gehälter ernähren Familien“, lobt Manderscheid das, was die christlich-soziale Opposition als „Kosten- und Personalexplosion“ rügt. „Wozu haben wir zwei Putzdienste? Warum legen wir diese nicht wenigstens zusammen“, fragt Oppositionspolitikerin Michèle Kayser-Wengler. Die CSV sieht beim Putzpersonal Einsparpotenzial. „Das Geld stünde dann für Investitionen in den Wohnungsbau zur Verfügung.“ So dramatisch, wie es bei der CSV klingt, ist die Lage aber nicht. Mit rund 51 Prozent Personalkosten am gesamten Gemeindehaushalt liegt Düdelingen landesweit im Mittelfeld. Die Stadt Luxemburg gibt rund 64 Prozent ihres Haushalts für Personal aus. Richtig ist, dass die Personalkosten in den vergangenen Jahren in Düdelingen deutlich gestiegen sind – und sie steigen weiter. So hat die Gemeinde 14 zusätzliche Putzstellen für das Sportzentrum René Hartmann veranschlagt.

Vor allem die Gewerkschafter innerhalb der LSAP, am ehemaligen Stahlstandort historisch tief verankert (Düdelingen ist bis heute der größte und stärkste Ortsverband innerhalb des OGBL), wehren sich energisch gegen Rationalisierungen und Personalkürzungen. Und das nicht erst jetzt. In einer Wahlbroschüre betonten Düdelinger LSAP-Politiker schon 1987 die wichtige Rolle der Gemeinde „als sozialer Arbeitgeber“. Andererseits, ganz dem Trend zu mehr Kostenersparnis versperrt sich die Gemeindeführung nicht: Für das Centre culturel Opderschmelz greift sie auf eine private Putzfirma zurück. „Wenn wir Dienste outsourcen, bedeutet das, dass Einwohner ihre Arbeit verlieren und mit weniger Geld auskommen müssen“, warnt Sozialschöffe René Manderscheid, der hauptberuflich beim Düdelinger OGBL tätig ist. Die stünden dann womöglich als nächste ... vor den Türen der Maison sociale.

Ines Kurschat
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