Im Speckgürtel der Hauptstadt entwickelt sich eine neue Art des urbanen Campingtourismus. Ein Besuch in Alzingen und Kockelscheuer

Eskapismus

Freiheit auf Rädern. Szene auf dem Camping Kockelscheuer
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 28.07.2023

Lieselotte und Leif sitzen am Tisch ihres Wohnmobils, vor ihnen Gouda-Scheiben, Marmelade, Toastbrot. Draußen regnet es, gemütlicher könnte es an einem Montagmorgen nicht zugehen. Seit Anfang des Monats haben die beiden ihre Heimat Silkeborg in Dänemark verlassen, um durch Europa zu tuckern, seit drei Tagen sind sie auf dem Camping Bon Accueil in Alzingen stationiert. Sie sind seit Kurzem im Ruhestand, mit dem Camper Van durch die Gegend fahren, gehört aber schon länger zu ihrem Lebensstil: Es ist das fünfte Wohnmobil in ihrem Besitz. Zum letzten Mal haben sie das Großherzogtum besucht, als sie 18 Jahre alt waren. Leif, rosa T-Shirt und Schnurrbart, kennt sich mit den Mobilen aus, zwei Jahre lang verkaufte er sie. Seine Frau und er schwärmen von den schönen Bauten in der Stadt, vom Großherzog und dem gratis öffentlichen Transport. Sie wollten sich unbedingt in Stadtnähe niederlassen.

Der Campingtourismus boomt, und das nicht nur im Ösling und Müllerthal, wo die meisten der Campingplätze angesiedelt sind (von insgesamt 78 befinden sich 51 in den Kantonen Wiltz, Diekirch, Vianden und Echternach). Insgesamt ist man landesweit in dieser Saison mit 0,6 Prozent Zuwachs wieder über dem Prä-Pandemie Tourismusniveau, was die Übernachtungen angeht – auf dem Camping deuten die Reservierungen der nächsten Monate auf eine Steigerung von über zwölf Prozent gegenüber dem Jahr 2019 hin. Seit etwa zwei Monaten zeigt auch die kleine Anzeigetafel außerhalb des Campings in Alzingen schon Complet an. Allmorgendlich fahren slowenische, polnische, finnische Wohnmobile aus der Anlage. Die dann doch berechtigte Frage, die sich aufdrängt: Was treibt diese Menschen bloß dorthin? Jean Theis (CSV), Präsident des Fremdenverkehrsvereins Hesperingen und Mitglied des Gemeinderats, erkennt eine andere Klientel in den Menschen, die hier mit ihren Zelten und ihren Wohnmobilen einchecken. „Generell gibt es etwas mehr Durchgangsverkehr auf diesem Camping und weniger Feriengäste“, erklärt er. Während in Esch/Sauer die Zelte eher für zwei Wochen aufgeschlagen werden, ist hier Stadttourismus angesagt. Zwischen einer und drei Nächten würden die Touristen übernachten, viele auf der Durchreise gen Süden.

Seit 1967 existiert das Campingfeld, über das das Luxemburger Wort damals schrieb: „(Es) wird nicht nur der Gesunderhaltung unseres Volkes, sondern darüber hinaus auch der Intensivierung des Tourismus und des Europagedankens förderlich sein.“ An einen Ausbau der Tourismusinfrastruktur hatte der Schöffenrat der Speckgürtelgemeinde bislang noch nicht gedacht – nun sollen Investitionen wie ein Haus neben der Schlossruine, das den Geschichtsfrënn Hesper zur Verfügung gestellt wird, und der geplante Fahrstuhl zum Stadion Holleschbierg, den „Lokaltourismus anregen“.

Unweit von Lieselotte und Leif sitzen Chelsea und Difani vor ihrem Zelt auf Klappstühlen und schlürfen Kaffee mit UHT-Milch. Das holländische Paar, um die 30 Jahre alt, besucht Luxemburg bereits zum siebten oder achten Mal, wegen der „guten Straßen“: Sie zeigen auf ein hinter ihnen geparktes Motorrad. Auf einem GPS haben sie sich etliche Strecken mit einer Länge zwischen 200 und 240 Kilometern markiert, die sie jeden Tag zurücklegen, ins Ösling oder nach Trier entlang der Mosel. Da sie „so alt dann doch noch nicht sind“, gehen sie abends noch in die Bars der Hauptstadt.

Alain Krier, Marktforscher bei der nationalen Promotionsagentur Luxembourg for Tourism, gibt an, immer mehr Millennials hätten Camping als Reiseform für sich entdeckt. Waren es früher zumeist Menschen im Ruhestand und junge Familien, die ihr Zelt aufschlugen oder ihren Camper abstellten, spricht man derzeit auch eine jüngere Altersklasse an; sicherlich nicht zuletzt wegen der Art und Weise, wie die Reiseform in den sozialen Medien vermarktet wird: als ultimative Freiheit an der frischen Luft. Krier stellt einen Trend des „Zurück zur Natur“ fest, den Wunsch, mehr Zeit draußen zu verbringen. Dieser Wunsch kann in den vergangenen Jahren zumindest zum Teil mit der Angst vor einer Covid-Ansteckung erklärt werden ­– die New York Times nannte das Ganze „isolationistisches Reisen“ – bisher ist jedoch kein Abebben dieses Trends erkennbar.

Vergangenen Sommer gab es laut Statec 54 Prozent mehr Campingübernachtungen als im Vorjahr. Allein die Jugendherbergen haben mit einer Steigerung von 139 Prozent noch mehr zugelegt. Auch in Deutschland haben sich die Übernachtungen in den letzten zwanzig Jahren knapp verdoppelt und lagen 2022 bei über 40 Millionen. Der Deutschen Presse-Agentur sagte der Geschäftsführer des Bundesverbandes für Campingwirtschaft, Christian Günther, er sehe eine Entwicklung hin zu einem „Massenphänomen“. Ähnliches lässt sich in den Vereinigten Staaten beobachten, wo sich das Suchtpotenzial des Campings herausschält: Laut der Organisation Kampgrounds of America hat sich seit 2014 dort die Zahl derer, die mehr als dreimal im Jahr auf diese Weise verreisen, um 174 Prozent gesteigert.

Montagnachmittag auf dem Camping Kockelscheuer. Die Regenwolken verziehen sich langsam, schüchtern scheint die Sonne. Margo Struik, die den Campingplatz seit 2019 gemeinsam mit ihrem Partner betreibt, hat viel zu tun: Ein Caravan nach dem anderen kommt am Eingang neben den adrett gepflegten Blumenbeeten an, um sich für die Nacht auf einem der 160 Stellplätze niederzulassen. Den Andrang könne man nicht mehr vergleichen, jeden Tag sei seit Pfingsten ausgebucht gewesen. Dabei gebe es die ältere Generation, die in der Vor- und Nachsaison stärker vertreten sei, und die jüngere, die in den Schulferien nun hier einen Zwischenstopp einlege, um den Palast und die Kasematten zu besichtigen.

Vergangenes Jahr verzeichnete die Betreiberin über 60 000 Übernachtungen auf ihrem Campingplatz, dieses Jahr werden es mehr. Alle Staatsbürgerschaften sind vertreten, wobei sie derzeit eine holländische Flagge aufhängen könnte, sagt sie und streicht sich die rosa-lila gefärbten Haare lächelnd aus dem Gesicht. Die neue Generation sei anspruchsvoller geworden. Auch aus diesem Grund habe man das Angebot ausgebaut, Schlaffässer gebaut und ein Restaurant neben der Rezeption eröffnet. „Die Menschen erwarten sich den gleichen Luxus, den sie auch zuhause genießen.“ Formel-1-schauen und Videocalls gehören für viele dazu. Zwischen den Boomern und den Millennials käme es gelegentlich zu Reibungen, da erstere letzteren vorwerfen, weniger sozial zu sein. Insgesamt sei das Wlan-Passwort die erste Priorität der Ankömmlinge, sagt Margo Struik. Durch die zahlreichen einzelnen Übernachtungen sei es zurzeit schwieriger, eine familiäre Atmosphäre entstehen zu lassen.

Die unterschiedlichen Generationen kann sie mit einem Blick gut unterscheiden: jene, die sich in der Pandemie einen Van gekauft haben, und jene Camper, die seit Jahrzehnten unterwegs sind. Ökonomische Faktoren spielen bei der Reiseform scheinbar weniger eine Rolle, schaut man sich die Preisklassen der abgestellten Reisebusse und Vans an. Zwar kostet eine Nacht samt Stellplatz und Strom für zwei Personen in Kockelscheuer nur 24 Euro – ein „einfacher“ VW California samt Zelt auf dem Dach aber mindestens 65 000 Euro. Für eines der beliebten Carthago Wohnmobile muss man Minimum 100 000 Euro hinlegen, für einen Reisebus mit Lounge der gleichen Marke gleich das doppelte. Das Luxussegment wird von Morelo besetzt, Einstiegspreis 190 000 Euro – der teuerste Grand Empire Liner (mit einer Länge von zwölf Metern, eingebautem Auto-Platz, Fernseher, Fußbodenheizung und Regendusche) kostet stolze 830 000 Euro.

Der Tourismusminister Lex Delles (DP) hat den Trend zum Camping (und Glamping, der populären Mischung aus Glamour und Camping) erkannt. Investitionshilfen fließen an Campingplätze, wenn sie neu eröffnen, renoviert oder ausgebaut werden, erläutert Damien Valvasori, Sprecher des Tourismusministeriums. Die diversen Kampagnen wie „Lëtzebuerg, dat ass Vakanz“, der Vëlosummer und der Gepäckträgerservice movewecarry würden die Campingunternehmen indirekt unterstützen, indem sie neue Kund/innen anziehen. Die Campingplätze hätten auch mittlerweile die Möglichkeit, sich nach Horesca-Kriterien und von der Generaldirektion für Tourismus klassieren zu lassen „um an Attraktivität zu gewinnen“.

Ein sympathisch gedeckter Tisch steht vor einem rustikalen Wohnmobil aus den 90er-Jahren. Harald sitzt auf einem seiner Campingstühle, seine zweieinhalbjährige Enkelin turnt um ihn herum. Die kleine Naima wohnt in Luxemburg, ihr Großvater besucht sie zum dritten Mal aus Köln. Die französische Campingkultur gefällt ihm und seiner Frau am besten, da es dort viele kleine Plätze gebe, die sogenannten campings municipaux, die meist weniger als 50 Stellplätze anbieten, erzählt er. Eigentlich ist der Campingplatz Kockelscheuer ein eher untypischer Ort für sie, doch die Familie wohne mitten in Luxemburg-Stadt. Später gehe es weiter zum Gardasee, um weitere Verwandte zu besuchen.

Sebastian Reddeker, Generaldirektor von Luxembourg for Tourism, erklärte kürzlich im RTL-Interview, eine Strategie bestehe auch darin, die Menschen dazu zu bewegen, ins Großherzogtum zurückzukehren. Zumindest auf den Campingplätzen in Alzingen und Kockelscheuer geht das auf, bestätigen Jean Theis und Margo Struik: Viele jener, die gen Süden unterwegs sind oder eine Rundreise machen, übernachten auf ihrem Heimweg wieder auf den beiden Urban-Campingplätzen.

Sarah Pepin
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