Don John: Was bedeuten heute eigentlich noch Bildung, Wissen, Erfahrung oder analytisches Savoir-Faire? Werden diese nicht zunehmend als Archaismus belächelt? Ist der Kritiker, der ein Werk mithilfe seines formalen Werkzeugkastens inspiziert und Begriffe wie intra- oder extradiegetisch benutzt nicht eine altmodische Erscheinung, wie jemand, der noch einen CD-Spieler im Auto besitzt? Die Dissonanz zwischen einer formalkritischen, möglichst nüchternen Analyse und der Hundekot-Attacke, die auf Kritik- und Rezeptionsebene die Emotionalisierung des kritischen Diskurses verdichtet, könnte größer fast nicht sein.
Marc Trappendreher: Zwischen Künstler und Kritiker mag so ein Kampf um die Deutungshoheit eines Werkes entflammen. In allen Fällen gilt: Kritik ohne Distanz ist nicht möglich. Dass ein Künstler es mitunter schwieriger hat, zu seiner eigenen Schöpfung auf kritische Distanz zu gehen, erscheint mir evident. Wo der Schöpfer an der einzig „wahren“, nämlich seiner Sichtweise, festhält, kann kein sinnstiftender, kunstkritischer Dialog entstehen. Der Kritiker muss die Distanz hingegen wahren und darauf achten, nicht ins Subjektivistische abzugleiten. Subjektivität und Subjektivismus liegen manchmal gefährlich nahe beieinander. Doch wo die Subjektivität sich um fundierte Analyse und Interpretation bemüht, da wird sie haltbar, der Subjektivismus hingegen verliert sich gerne in der Ich-Bezogenheit.
DJ: Literaturforscher und Psychoanalyst Pierre Bayard hat mal behauptet, Kritik könne ausschließlich subjektiv sein – und Kritiker würden sich nur auf formale Argumente berufen, um ihrem eigentlich subjektiven Urteil den Anschein der Objektivität zu verleihen. Und irgendwie stimmt es schon – einem Regisseur, einem Musiker, einem Schriftsteller, dessen Werk wir mögen, verzeihen wir Unstimmigkeiten, Dissonanzen oder Längen viel eher als jemandem, dessen Werk wir nicht kennen oder mit dessen Schaffen wir keine persönlichen, ja vielleicht sogar intimen Überschneidungen haben.
Tom Haas: Ich frage mich manchmal, ob „Distanz“ nicht etwas ist, was wir Kritiker gerne simulieren. Wir gehen davon aus, dass unsere Sachkenntnis und unser kulturtheoretisches Instrumentarium uns einen distanzierten Blick auf ein Werk ermöglichen. Aber stellen wir uns für einen Moment mal vor, die Kunst wäre ein gigantisches Naturreservat: der Hollywood-Nationalpark. Dort gibt es dann den Wes-Anderson-Ahornwald, die Tarantino-Klippen oder den Martin-Scorsese-See.
MT: Vergiss nicht das Michael Mann-Monument-Valley, majestätisch emporragende Film-Formationen, die die Zeit überdauern…
DJ: Tom, Marc, eure Klippen, Wälder, Seen und Valleys sind ausschließlich männlich! Wenn ihr so weitermacht, dürft ihr demnächst Thierry Frémaux in der Cannes-Programmierung ablösen.
TH: Nach Frauen werden inzwischen Straßen benannt. Bis sich das in der Geografie durchsetzt, vergehen nochmal ein paar hundert Jahre. Ich bin nur auf der Höhe der Zeit. Aber zurück zum Thema: Eine Touristin, die den Nationalpark besucht, steht staunend vor diesen Wundern. Wir aber wissen, wann der Ahorn seine Farben wechselt, wie tief und still der See ist und auch die Klippen haben wir beklettert und vermessen. Macht uns das zu distanzierten Beobachtern? Oder reagieren wir vielleicht einfach empfindlicher auf die Veränderungen in unserem vertrauten Umfeld?
DJ: Deine Hollywood-Topografie ist toll – und erklärt auch, woher das Bild des blasierten Kritikers stammt. Je mehr man gesehen, gelesen oder gehört hat, desto stärker der Abnutzungseffekt. Die Begeisterungsfähigkeit des jungen Kritikers, der zum ersten Mal den Sofia-Coppola-Teich betrachtet oder den Michael-Bay-Schießstand besichtigt, müsste man vielleicht in das zynische Weltbild des erfahrenen Kritikers einschleusen. Weswegen meine Bemerkung zum phallozentrischen Hollywood-Nationalpark nicht nur reine Stichelei war: Vielleicht liegt die Rolle des Kritikers heute weniger darin, zu erklären, wieso der neue Wes-Anderson-Film sterbenslangweilig ist, sondern darin, neue filmische Weltsichten abseits der abgetretenen Pfade hervorzuheben und darüber nachzudenken, wieso dieses Jahr in Cannes nur vier von 22 Wettbewerbsbeiträgen von Regisseurinnen sind. Kritik bedeutet ja nicht nur, das Werk an sich zu beurteilen, sondern es auch inmitten gesellschaftspolitischer Gefüge einzuordnen.
TH: Aber das ist doch etwas, was zusehends passiert. Und ehrlich gesagt nicht zugunsten der Kritik. Der viel zitierte Kulturkampf veranlasst Kritiker:innen dazu, sich ihres formalen Instrumentariums zu entledigen wie ein Einsiedlerkrebs die zu klein gewordene Muschel hinter sich lässt. Und was sie sich stattdessen überstülpen, ist der Plastikmüll der kulturtheoretischen Ozeane: ein Aktivistensprech, der sich Vokabular und Konzepte aus Gender- und postkolonialen Studien leiht und damit jede augenscheinliche Fehlbesetzung zum Politikum hochjazzt, während die Auseinandersetzung mit dem Werk auf der Strecke bleibt. Gesellschaftspolitik ist gerade Erregungspolitik, der Skandal braucht keine Einordnung mehr. Die würde ihn doch nur in seiner destruktiven Entfaltung hemmen. Frémaux soll zurücktreten! Nächstes Mal eine Frau an seiner Stelle, dann wird alles gut. Greta Gerwig hat bestimmt Zeit.
DJ: Das meine ich doch - eine metadiskursive Auseinandersetzung mit genau dieser Erregungspolitik, eine Taxonomie der taxonomielosen Skandale. Klar, die Kritik bleibt auf der Strecke - aber wenn Kritiker sich weiterhin nur in ihrer Ecke über den komparativen Gebrauch der Metalepse bei Borges, Woody Allen und Escher unterhalten, sind wir sehr bald noch weniger relevant als der ESC. Vielleicht muss Kritik nun gleichzeitig auch Metakritik sein, um in den Grundsatzdebatten im Kulturkampf mitzumischen - in der Hoffnung, sich irgendwann wieder mit dem Werk befassen zu dürfen. Denn, da gebe ich dir absolut recht, das verlieren wir immer mehr aus den Augen.
MT: Die Annäherung an das Werk ist ja ohnehin an spezifische Vorstellungen und Erwartungen geknüpft, die man sich von der Kritik macht. Eine immer noch weit verbreitete Annahme beruht darauf, dass Kritik Empfehlungen auszusprechen habe, dass sie ein Werk auf ein qualitatives Urteil von „gut“ oder „schlecht“ bringen müsse. Und schon sind wir ganz schnell im Problemkreis: Eine positive Kritik wirkt wie ein Widerspruch in sich. Wer ein Werk lobt, wirkt in seinem Denken affirmativ und mithin weniger „kritisch“. Die negative Kritik wirkt, bis hin zum Verriss, distanzierter, weil sie höhere Ansprüche simuliert, weil sie beanstandet und Mängel erkennen will.
DJ: Wobei positive Kritik oft auch der Rückzugsort der Feigen und Ahnungslosen ist. Kritiker, die immer nur loben, sind bei den meisten Kulturschaffenden äußerst beliebt – ein Intendant würde einen Kritiker niemals mit Hundekot bewerfen, nur weil seine Lobhudelei substanzlos, frei von Tiefgang oder gar fehlerhaft ist. Speziell hierzulande gilt: Wer keine Ahnung hat, schreibt im Zweifelsfall eine positive Kritik, dann werden gerne auch mal zwei Augen zugedrückt, was die mangelnde Qualität des Artikels anbelangt. Muss man also, um heute als Kritiker zwischen Werk und Leser zu vermitteln, ohne den Groll der Kulturschaffenden zu provozieren, auf kurze, als Kritik getarnte, Instagram-taugliche Werbetexte, die alle versöhnlich stimmen, umsatteln?
TH: Damit wären wir bei dem, was ich letztes Mal angemerkt hatte: Die Form der Kritik wird von den Erwartungen der Rezipienten geformt und die erwarten sich einen Werbetext oder eine Gebrauchsanweisung zum eigentlichen Produkt. Entweder zur Absatzsteigerung im Falle des Künstlers, oder eine Art des Vorkauens im Fall der Rezipienten - woher weiß ich schließlich, was ich von einem Werk halten soll, wenn niemand mir sagt, was ich zu denken habe? In dieser Auffassung ist Kritik das Öl im Getriebe des Verwertungsprozesses. Meiner Ansicht nach müsste sie aber Sand sein. Und trotzdem: Ich behaupte, dass eine Kritik auch immer ein Urteil fällen muss. Ist dieses Buch gut, ist dieser Film schlecht? Wir schreiben keine Aufsätze für Fachkollegen. Wir schreiben mit Fachkenntnis für Publikumsmedien, also für Leute, die sich in ihrer knapp bemessenen Freizeit mit einem Kulturprodukt beschäftigen wollen. Ihnen ein Urteil vorzuenthalten, ist Verrat am Leser. Denn die Auseinandersetzung mit einem Werk braucht Positionen, an denen sie sich reiben kann. Wer die Dialektik schon mitliefert, der nimmt dem Leser das Denken ab.
MT: Sollten Begriffe wie „gut“ oder „schlecht“ Verwendung finden, so stellt sich mir die Frage nach der Relation. In Bezug auf was genau ist etwa ein Film oder ein Theaterstück sehenswert? Sehenswert unter Einbeziehung aller umliegenden Umstände? Lohnt es sich, dass ich mich für diesen Film oder dieses Stück ins Auto setze und ein Parkticket löse? Was meinen dann überhaupt Begriffe wie „exzellent“, „hervorragend“, „miserabel“ oder „katastrophal“? Entsprechende auf- und abwertende Begriffe sind isoliert kaum bedeutend, auch nicht, wenn sie in Relation mit Sternchen oder Däumchen auftreten. Auch erscheint es mir fragwürdig, wie solche adjektivischen Beschreibungen sinnstiftend sind in Bezug auf die Gesamtheit eines Werke; gerade mit Blick auf den überaus hohen Komplexitätsgrad von Kunst. Theater und Film allein vereinen bereits mehrere unterschiedliche künstlerische Disziplinen auf sich: Da gibt es das Schauspiel, das Bühnenbild oder das Setdesign, die Kostümierung, die Maske, die Musik etc. Eine immer auffälliger werdende Praxis ist zu beobachten: Es genügt z.B. der Blick auf aktuelle Filmplakate. Gerne zieren positiv aufgeladene adjektivische Zuschreibungen aus diversen Print- oder Onlinemedien die Filmplakate aktueller Kinofilme, mitunter ganz zusammenhangslos, aus dem Kontext einer gesamten Rezension gerissen. Überhaupt wohnt diesen Begrifflichkeiten etwas Exklamatorisches und Marktschreierisches inne. Eine Frage drängt sich auf: Wo verläuft die Grenze zwischen Kritik und Werbung? Trägt die Kritik dann noch der diskursiven Dimension ihres Wesens Rechnung oder wird sie so anfälliger für werbungsbezogene Marktlogiken? Überspitzt formuliert: Ist das nicht schon ein Fall von Missbrauch von Kritik?
DJ: Es ist schon absurd, wenn da „amazing - The Guardian“ steht, als hätte die britische Tageszeitung Urheberrechte auf das Adjektiv, als könnte ein austauschbares Adjektiv bereits ein Zitat sein. Dieser Missbrauch fußt auch in der von Tom erwähnten Erwartungshaltung des Rezipienten, der, konditioniert durch genau diese effekthaschenden Filmplakatauszüge, sich von Kritik irgendwann nur noch eine Empfehlung erwartet, bestenfalls abgekoppelt von der lästigen Analyse, die sich wie ein Hindernis zwischen ihn und den Kulturkonsum stellt. Der Markt diktiert diesen Missbrauch der Kritik so lange, bis sich der Rezipient daran gewöhnt hat. Fragt sich nur, wie diese Marktlogik unterlaufen werden könnte.
TH: Der Witz ist ja, dass der Markt auch die beste Kritik produktiv verwerten kann und eine analytische Kritik dem sogar noch hilft, weil Komplexität in der Werbung auch Ernsthaftigkeit suggeriert. Statt „amazing - The Guardian“ könnte da auch stehen: “amazing - Barack Obama”. Es geht darum, mithilfe einer Autorität Vertrauen zu schaffen, was übrigens auch die traditionelle Methode von Trickbetrügern ist. Und ja, das ist Missbrauch von Kritik.
MT: Diese Form des „Missbrauchs“, d.h. der zusammenhanglosen Übernahme von adjektivischen „Qualitätsformeln“, zeigt mir, wie wichtig es ist, diese immer wieder einzubetten in einen Gesamtzusammenhang aus Analyse und Interpretation, der bemüht ist, die Kunstfertigkeit eines Werkes nahezulegen. Wenn wir die Kritik vielmehr als Anregung begreifen wollen, erscheint mir auch die Frage spannend: Was macht das Werk mit mir? Sollte die reine Frage nach dem Qualitätsurteil sich in der Folge nicht ebenso öffnen für Anregungen, die sich unabhängig von der reinen Trennung zwischen „gut“ und „schlecht“ bewegen? Wie ist diese Hürde zu überwinden? Sollte nicht ein Diskurs zwischen Künstler und Kritiker nebeneinander bestehen, kann er nicht konstruktiv und förderlich sein?
DJ: Dafür müsste der Künstler begreifen, dass diese Reduzierung der Kritik auf ihre kapitalistische Verwertbarkeit auf Plakaten und Buchdeckel auch ihm schadet, weil damit der Diskurs über sein Werk erstarrt und dieses ohne kritische Analyse irgendwann ganz diskussionslos im neoliberalen Marktgefüge existiert. Künstler brauchen Kritik schon alleine, um ihr Portfolio zu füttern. Wenn dort nur noch kaum begründete 1-Sterne-Kritiken fungieren, weil niemand sich mit einem auf den ersten Blick sperrigen Werk auseinandergesetzt hat, könnten sich auch die Subventionierungskriterien anpassen - was das Ende einer gewissen experimentierfreudigen Avant-Garde bedeuten könnte.