Nicolas Simons ist ein junger Ökonom von der Union des entreprises luxembourgeoises (UEL) und ein ziemlich cooler Typ. Er versteht es, wie mit einer Abenteuergeschichte von dem zu erzählen, was einen Unternehmer jeden Tag umtreibt. Das Ringen um Marktanteile. Die Lohnkosten. Die Lohnnebenkosten. Die ökologische Transition. Die Suche nach qualifiziertem Personal, besser gesagt: nach „Talenten“. Alles schwierig, aber spannend. Unternehmer unternehmen was.
Am Dienstagabend ist Simons in den Bonneweger Rotonden zu Gast. Vom Sozialpartner ist Dylan Theis gekommen, Ökonom bei der Arbeitnehmerkammer CSL und ebenfalls jung. Es geht um die „Rentenreform“: Zu der hat die Zeitschrift Forum in ihrer vorige Woche erschienenen neuen Ausgabe ein „Handbuch“ beigefügt und nun zur Diskussion eingeladen. Mit Vertretern von sechs Partei-Jugendorganisationen, die meisten sind Spitzenleute. Von der CSJ sitzt Generalsekretär Laurent Braun im Halbdunkel des Podiums, von den Jungen Liberalen Vizepräsident Steven Milbert. Die Jungsozialisten haben Ko-Präsident Max Molitor geschickt, die Jonk Gréng ihren Ko-Sprecher Kris Hansen. Die Piraten vertritt Mathis Godefroid, der vor seinem Parteibeitritt Präsident des nationalen Jugendrats war und heute Gemeinderat in Hesperingen ist. Die Jonk Lénk haben Pierre Turquin delegiert, der zu den Kammerwahlen auf der Zentrumsliste der Partei kandidiert hatte. Politikneuling ist also keiner der sechs. Nicolas Simons sieht das auch so: „Ihr seid vielleicht die künftigen Entscheider!“ Mit ihnen über die Renten diskutieren zu können, sei „extrem wichtig“. Denn: „Die Rentenreform ist besonders wichtig für die Jungen.“
Womit der UEL-Ökonom vielleicht die Gelegenheit des Abends nutzt, um den Anfang einer Erzählung zur Rentenreform zu liefern, welche die Regierung noch gar nicht so nennen will, weil sie eine Erzählung noch nicht hat. Im Wahlkampf hatten weder CSV noch DP die Renten thematisiert. Die UEL holte das am 16. Oktober in einem Brief an den formateur nach. Bei „politique inchangée“ würden die Rentenausgaben hierzulande im EU-Vergleich am stärksten wachsen. „De petites adaptations immédiates seraient plus aisées à faire accepter et plus équitables pour les pensionnaires actuels et pour les générations futures que de grands changements plus tard.“ So schnell wie möglich müssten das tatsächliche Renteneintrittsalter erhöht und die Beitragskarrieren verlängert werden. Das Prinzip „prestations si cotisations“ müsse gelten, Ersatzzeiten müssten überdacht werden. Die Beitragsobergrenze, die zurzeit beim fünffachen Mindestlohn liegt, müsse runter. Betriebliche und private Zusatzrenten seien zu fördern. Die Handelskammer schloss sich an: „Il est impératif de mettre en œuvre une réforme globale des pensions.“
Doch Rentenreformen sind heikel. Mit ihnen können sich Wahlen verlieren lassen. Deshalb braucht jede Rentenreform eine Erzählung, in der das politische Ziel gut aufgehoben wird. Das politische Ziel der Reform von 2012 war, nach drei Jahrzehnten sukzessiver Rentenerhöhungen im Privatsektor den Rückwärtsgang einzulegen und die Leistungen zu kürzen, so weit sich das machen ließ. Die Erzählung rundherum begann mit der guten Nachricht, dass alle immer älter würden. Statt die schlechte Nachricht folgen zu lassen, dass deshalb alle länger arbeiten müssten, brachten CSV-Finanzminister Luc Frieden und LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo sie in der Erzählung als Option unter: Wer beim Rentenantritt eine Leistung in derselben Höhe haben wollte, die das System versprach, würde drei Jahre länger arbeiten müssen. Wem das egal wäre, könnte gehen, wie gehabt, aber mit einer Einbuße von 13 bis 15 Prozent. Mars Di Bartolomeo nannte das eine „Pension à la carte“, denn in Luxemburg geht man gerne essen.
Die Erzählung für die Reform diesmal könnte von einer gesellschaftlichen Bringschuld gegenüber den jungen Generationen handeln. Wie das schon im Koalitionsvertrag der Regierung steht, wünschte sich CSV-Premier Luc Frieden im Januar im Parlament eine „breite gesellschaftliche Debatte“ über die Renten. Und sagte, an ihr sollten auch die Partei-Jugendorganisationen, das Jugendparlament und der Studentenverband Acel teilnehmen. Das „viele Wachstum“, das zur langfristigen Finanzierung der Renten nötig sei, belaste die jungen Generationen mit einer „Hypothek“.
Auch CSV-Sozialministerin Martine Deprez sprach Anfang des Jahres im Land-Interview von der „ungesunden“ Abhängigkeit der Rentenfinanzierung von einem „permanenten Wachstum“. Und dass sie nicht sicher sei, ob „die jüngeren Aktiven um ein oder zwei Prozentpunkte erhöhte Beiträge akzeptieren würden, wohlwissend, dass das System dann vielleicht noch immer nicht auf gesunden Füßen steht“ (d’Land, 5.1.2024).
Noch ist es ruhig um die Reform, die die Regierung noch nicht so nennen und die Sozialministerin zum Sondieren vorschicken will. Begonnen hat Martine Deprez damit anscheinend noch nicht. In drei Wochen sind Europawahlen, und vor den Sommerferien will der Wirtschafts- und Sozialrat einen Bericht zu den Renten abschließen. In dem UEL und Gewerkschaften voraussichtlich mitteilen werden, dass sie sich einig sind, sich nicht einig zu sein.
Wenn anschließend sondiert und danach eine Geschichte verfasst wird, um einen Reformansatz zu erklären, kann der Abend in Bonneweg mit der Parteijugend womöglich als aufschlussreiche Momentaufnahme dienen. „Wir müssen jetzt etwas machen“, beschwört UEL-Ökonom Nicolas Simons die sechs jungen Funktionäre. „Wir tanzen auf einem Vulkan!“ Das sei wie mit dem Klimawandel: „Da heißt es auch immer wieder, der sei nicht so schlimm. Aber der Klimawandel betrifft vor allem euch, die Jungen.“ Genau wie die Renten, „die nicht nachhaltig sind“.
Dylan Theis von der Arbeitnehmerkammer versucht, dagegenzuhalten. Das ist nicht leicht angesichts der urgence, die der Sparringspartner von der UEL beschwört. Theis erklärt, wie das System aktuell funktioniert. Dass alle fünf Jahre überprüft wird, ob in den folgenden zehn Jahren die Rentenreserve, wie gesetzlich vorgeschrieben, mindestens anderthalb Jahresausgaben groß bleiben kann. So viel Vorausschau reiche doch; fünf Jahrzehnte nach vorn zu blicken, wie die EU-Kommission das alle drei Jahre tut, sei viel zu unsicher. Und die Rentenreserve ist derzeit mehr als vier Jahresausgaben schwer.
Theis verteidigt den Ansatz, dass innerhalb von zehn Jahren politisch entschieden werden kann, was man unternimmt, wenn nötig. Und dass, da spricht er ganz für die Gewerkschaften in seiner Kammer, es prinzipiell eine andere Auffassung vom Luxemburger Rentensystem geben kann als die der UEL: „Ich höre immer: Kürzen, kürzen, kürzen. Wieso einigen wir uns nicht darauf, dass wir so einen guten service public wollen? Anschließend diskutieren wir darüber, wie wir ihn längerfristig finanzieren.“ Noch dienen dazu vor allem die Beiträge auf ein Bruttogehalt. Vielleicht könnte man auch Steuern auf Kapitalerträge oder auf Vermögen dazu nutzen. Und dann der Trend zur Automatisierung und zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz: „Wenn es dadurch weniger Arbeitsplätze gibt, gibt es automatisch weniger Rentenbeiträge auf Gehälter, der Mehrwert aber nimmt zu.“ Den könnte man „zum Teil abschöpfen, ergänzend zu den Beiträgen auf Gehältern“. Schließlich der Beitragssatz selber: „Er ist seit 1977 unverändert. Wenn man 50 Jahre später nicht mal darüber nachdenken kann, ihn zu erhöhen, ohne dass es heißt, die Betriebe laufen weg, dann ist das falscher Alarmismus.“
An dieser Stelle ist die Debatte beim größten Tabu der Luxemburger Sozialversicherungspolitik angelangt. Beitragserhöhungen zur Krankenversicherung konnte die UEL immer mal wieder zustimmen. Finanzierungsprobleme dort sind oft akuter und lösen sich wieder, dann lässt der Beitragssatz sich wieder senken. Die Wirkung bei den Renten ist langfristig. Nicolas Simons hebt zu einem Vortrag an: „Könnt ihr euch vorstellen, was für ein negatives Signal an Investoren aus dem Ausland das wäre?“ Und die internationalen Rekrutierer für Talente, was würden die sagen, wenn sie hören, dass in Luxemburg höhere Beiträge oder neue Steuern ein ohnehin schon zu großzügiges Rentensystem finanzieren sollen? „Das wäre für sie ganz schwer zu verstehen.“ Damit die sechs Gesprächspartner von der Parteijugend das möglichst auch schwer verstehen, schiebt er nach, dass höhere Beiträge die Kaufkraft senken würden. „Aber junge Leute haben doch heute Probleme, sie brauchen heute Geld.“
Eine richtige Diskussion kommt nicht auf. Für die sechs Gäste von den Jugendorganisationen ist das Thema zu neu, manche sind ihm mit dem „Handbuch“ von Forum zum ersten Mal begegnet. Außerdem liegt noch kein konkreter Vorschlag der Regierung vor. Zur Reform 2012 hatten die Organisationen einen Konsens erreicht. Sie fanden die Wachstumsannahmen der damaligen CSV-LSAP-Regierung (drei Prozent BIP-Zuwachs und 1,5 Prozent mehr Beschäftigung im Jahresschnitt) „zu optimistisch“ und die Aussicht, dass es im Jahr 2060 rund 737 000 aktive Beitragszahler geben könnte, „unrealistisch“. Und sie fanden, dass die Reform „unverhältnismäßig“ zulasten der Jungen ginge. Es müssten „Kosten“ berücksichtigt werden, die ihnen im Laufe ihres Berufslebens entstünden, vom Risiko auf Jobverlust über vielleicht prekäre Arbeitsverhältnisse bis hin zu langen Ausbildungen. Dass, wie die damalige Regierung das plante, Ausbildungszeiten nur angerechnet würden, die man zwischen 20 und 27 absolviert hätte und nicht zwischen 18 und 27 sei „ein Problem“. Am Ende gab die Regierung in diesem Punkt nach.
Am Dienstag in Bonneweg wird entlang der Parteilinie argumentiert. CSJ-Generalsekretär Laurent Braun würde die Mindestrente erhöhen, wie Martine Deprez angekündigt hat, und er hätte nichts gegen private Rentenvorsorge. Noch besser als ein Rentenvertrag im dritten Pfeiler sei übrigens „selber investieren“, in ETF-Fonds zum Beispiel: „Da wird der Erlös nur zu 50 Prozent besteuert!“ JDL-Vizepräsident Steven Milbert fände Rentenbeiträge auf Künstliche Intelligenz nicht gut, „das würde den Standort schwächen“. Zu den Renten gebe es „wie zum Wohnungsbau nicht eine einzige Wunderlösung, sondern viele kleine Schritte“. Deshalb sollten „Biergerréit“ in die Debatte einbezogen werden.
Pierre Turquin gibt „die offizielle“ Position der Linken kund: „Wir wollen zurück auf den Stand vor der Reform von 2012.“ JSL-Präsisdent Max Molitor kann viel mit den Ideen von CSL-Ökonom Dylan Theis zu „alternativen Finanzierungsmöglichkeiten“ anfangen: „Die Betriebe werden immer produktiver, aber die Produktivitätsgewinne kommen nicht immer bei denen an, die arbeiten.“ Jonk-Gréng-Sprecher Kris Hansen gibt zu, dass er nicht richtig beurteilen kann, ob „eine große Reform nötig ist, oder die Stellschrauben aus der von 2012 genügen“. Zu denken geben ihm die Wachstums-Prämissen: „Nachhaltiges Wachstum war bei uns noch nie möglich“. Pirat Mathis Godefroid würde zur Finanzierung der Renten die Einnahmen aus Glücksspiel, Tabak- und Tankakzisen heranziehen, „das sollte alles ins Pensionssystem fließen“. Für die Debatte schwebt ihm eine „Quadripartite“ vor: Gewerkschaften, UEL, Bürger/innen und öffentlicher Dienst.
Öffentlichger Dienst deshalb, weil es über die Renten bei Staat, Gemeinden und der Eisenbahn ein wenig hoch hergeht. Dem „Handbuch“ von Forum ist zu entnehmen, dass ein Drittel der zurzeit für den öffentlichen Sektor ausgezahlten Renten bei 8 000 Euro oder mehr liegen. Mathis Godefroid von den Piraten rät, das ruhig zu sehen. „Wir müssen die zehn Prozent der Reichsten besteuern, aber das sind keine Beamten oder pensionierte Beamte.“ Der öffentliche Dienst, erinnert er, „arbeitet für uns alle“.
Vielleicht ist das politisches Kalkül, denn die Piraten pflegen eine Nähe zur CGFP, seit die von der CSV bei der Interpretation des Gehälterabkommens von 2022 verraten wurde. Aber die offenbar hohen Beamtenpensionen geben im Saal zu denken. Sie erscheinen umso höher, da die CSV-Sozialministerin schon angekündigt hat, die in der Reform von 2012 auf vierzig Jahre gestreckte Rentenkürzung um zwanzig Jahre vorziehen zu wollen. Nicolas Simons von der UEL geht gerne auf die Frage ein, was er von régimes spéciaux im öffentlichen Sektor hält: 750 Millionen Euro stünden im Staatshaushalt für dieses Jahr als Zuwendung an den Fonds de pension für den öffentlichen Dienst, erklärt er, 2028 sollten es mehr als eine Milliarde sein. Nicht innerhalb von 20 Jahren, sondern innerhalb von fünf. Das sei ungerecht, überhaupt nicht nicht korrekt. „Es gibt so viele Leute, denen Steuererleichterungen guttäten, Wohnungssuchende oder Geringverdiener.“
Am Ende könnte es vor allem das sein, was von dem Abend in Bonneweg hängenbleibt. Es scheint auch, als habe die Solidarität der CSL mit dem öffentlichen Dienst ihre Grenzen, als Dylan Theis meint, Pensionen von 8 000 oder 9 000 Euro im öffentlichen Sektor dürfe man nicht als Vorwand für Kürzungen im Privé nehmen. „Das darf man nicht miteinander vermischen, das sind zwei verschiedene Dinge.“ Max Molitor von den Jungsozialisten fragte sich, ob der Staat diese hohen Renten weiter unterstützen sollte, und Pierre Turquin von den Jonk Lénk findet, „auch im Privatsektor sind die großen hohen Renten runterzubringen“. Was vermutlich nicht die endgültige Position sowohl seiner Organisation wie der Mutterpartei sein wird, aber Zweifel am System sind aufgekommen. „Vielleicht machen wir ja in drei Monaten wieder eine Debatte“, sagt der Ökonom von der UEL.