Das Luxemburger Wirtschafts- und Sozialmodell wird umgebaut, aber das Parlament hatte bisher kaum mitzureden

Magere Bilanz

d'Lëtzebuerger Land du 13.07.2012

Kurz vor der Sommerpause laden die im Parlament vertretenen Parteien die Presse in meist gutbürgerliche Restaurants ein. Die CSV zieht im Bouquet garni, die LSAP und die ADR im Clairefontaine, die DP im Ikki, déi Gréng in der Table d’Axelle und déi Lénk bei Voglia Matta Bilanz der gerade zu Ende gegangenen Kammersession, um noch einmal die hohen Taten der eigenen Recken und die Niederlagen der gegnerischen Reihen aufleben zu lassen.

Dazu zählte selbstverständlich die lautstarke Ausein­andersetzung um das Wickrange Shopping Center und die Liwinger Stadion-Mall in den vergangenen Monaten. Aber weit wichtiger war, dass während der am Mittwoch dieser Woche zu Ende gegangenen Session intensiv am Umbau des „Luxemburger Modells“ gearbeitet wurde – und das Parlament an diesen Vorbereitungen kaum beteiligt war. Der grüne Fraktionssprecher François Bausch klagte am Donnerstag, dass in der aktuellen Session weniger Sitzungen staffgefunden hätten und weniger Gesetze verabschiedet worden seien, als in der Session zuvor. Was er auf Meinungsverschiedenheiten zwischen CSV und LSAP über wichtige Gesetzentwürfe zurückführte. Doch längst nicht alle Parteien sind traurig über die Zurückhaltung des Parlaments. Denn auf dem längerfristigen Programm steht eine bei den Wählern nicht sonderlich beliebte Drosselung der Staatsausgaben, der Sozialausgaben und der Lohnentwicklung, mit denen die Volkswirtschaft und ihr Sozial­modell an den globalisierten Konkurrenzkampf, die Krise des Neoliberalismus und die Zeit danach angepasst werden sollen.

Selbstverständlich hatte die Regierungskoalition deshalb die Gemeindewahlen im Oktober vergangenen Jahres abgewartet. Um festzustellen, dass das nationalpolitische Zeichen anders gesetzt wurde, als es die LSAP angekündigt hatte. Weder Sozialisten noch Liberale wurden für die wirtschafts- und sozialpolitischen Auseinandersetzungen mit der im Parlament dominierenden CSV gestärkt.

Index, Mindestlohn, Beamtengehälter

Zum Glück für alle Parteien musste das Parlament bisher nur über eine Fortsetzung der Indexmanipulation bis zum Ende der Legislaturperiode entscheiden. Dass das Votum in quasi nationaler Eintracht geschehen konnte, wurde durch den eher symbolischen Widerstand der Gewerkschaften möglich, die das entsprechende Tripartite-Abkommen Ende vergangenen Jahres zwar nicht unterzeichnen, aber auch nicht richtig bekämpfen wollten, da die Unternehmer sogar ein „Index-Moratorium“ und die „Desindexierung“ der Volkswirtschaft verlangt hatten. So forderte selbst in der LSAP niemand mehr einen außerordentlichen Index-Kongress wie nach der gescheiterten Tripartite 2010. Bei zweieinhalb Prozent Preissteigerung im Jahr und jährlich einer Index­tranche von zweieinhalb Prozent halten sich die Auswirkungen der Manipulation sowieso in Grenzen.

Doch die vom Parlament beschlossene Fortsetzung der Indexmanipulation ist nur ein Mittel, um das Lohnniveau zu beeinflussen, um den Inflationsausgleich in ein Instrument nationaler Einkommenspolitik zu verwandeln. Denn „wir können nicht so weitermachen wie in den vergangenen 20 Jahren, wenn andere Länder Lohnmäßigung betreiben“, hatte Jean-Claude Juncker (CSV) im Februar gemeint. Er sei „kein großer Anhänger der deutschen Lohnpolitik“, die den Export auf Kosten der Binnennachfrage fördere, aber „wir müssen Abstand nehmen von der rasanten Entwicklung der vergangenen Jahre“.

Um mit einer nationalen Einkommenspolitik das Lohnniveau schrittweise dem deutschen anzunähern, will sich die Regierung nicht nur des Index bedienen, sondern auch des Mindestlohns und der Gehälter im öffentlichen Dienst. ­Premier Jean-Claude Juncker hatte den Unternehmern nach der erneut gescheiterten Tripartite nicht nur eine weitere Kompensierung der gesetzlichen Mindestlohnanpassung in Aussicht gestellt – wie vergangenes Jahr durch einen Zuschuss an die Mutualité des employeurs. Er hatte auch gewunden einen Ausgleich des für zu hoch empfundenen Mindestlohnniveaus erwogen. Aber bisher befasste sich das Parlament überhaupt nicht mit dieser sozial­politisch brisanten Frage, und die Regierung legte auch noch keinen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Im Herbst muss sie zumindest einen Entwurf über die Anpassung des Mindestlohns an die allgemeine Lohnentwicklung in der Kammer hinterlegen.

Um das Lohnniveau im Land zu drosseln, handelten die CSV-Minster François Biltgen und Octavie Modert mit der Beamtengewerkschaft CGFP eine Gehälterrevison aus, bei der sie sich eine 20-prozentige Kürzung der Praktikantenentschädigung vor der Verbeamtung mit einer Punktwerterhöhung der derzeitigen Beamten erkauften. Bisher beschränkte sich die Rolle des Parlaments darauf, über fast alle Parteien hinweg eine Aufschiebung der Gehaltserhöhung zu verlangen. Mehr durfte oder brauchte es sich wiederum nicht mit der Frage zu befassen. Denn die entsprechenden Gesetzesvorentwürfe stehen zwar seit Oktober vergangenen Jahres auf der Web-Seite des Ministeriums des öffentlichen Dienstes, aber die Regierung hat bis heute noch keine Gesetzentwürfe in der Kammer hinterlegt.

Neben der Indexmanipulation konnte sich die Kammer lediglich mit der geplanten Rentenreform befassen. Was einerseits damit zu tun hat, dass LSAP-Berichterstatterin Lydia Mutsch den Parteiauftrag hat, Sozialminister Mars Di Bartolomeo, der den entsprechenden Gesetzentwurf Anfang des Jahres einbrachte, heil durch das politische Minenfeld zu bringen. Aber auch andererseits damit, dass die Gewerkschaften die Reform für das kleinere Übel halten und deshalb nur oberflächlich kritisieren. Inzwischen liegen fast alle Gutachten von Berufskammern und Staatsrat vor; die Kammer hatte Anhörungen von Vereinen und Verbänden organisiert und wartet im Herbst auf Änderungsanträge der Regierung.

Der Kampf von Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) mit den Lehrergewerkschaften um die Reform des Sekundarunterrichts geschieht dagegen wiederum unter Ausschluss des Parlaments. Ihr Bemühen, den Unterricht an die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts anzupassen, genießt nicht einmal große Unterstützung in den eigenen Reihen.

Beim Umbau des Wirtschafts- und Sozialmodells geht es vor allem um die Frage nach der Zweckbestimmung des Sozialstaats im 21. Jahrhundert: Nachdem er anfangs mehr schlecht als recht den Armen und jenen helfen sollte, die durch Krankheit, Unfall oder Alter keiner Erwerbsarbeit nachgehen können und so von Armut bedroht sind, trieb er nach dem Zweiten Weltkrieg einen Teil des nationalen Reichtums mittels Steuern und Sozialbeiträgen ein, um ihn über soziale Transfers und Dienstleistungen innerhalb fast der ganzen Gesellschaft umzuverteilen. Nun soll er sich im globalen Konkurrenzkampf der Produktionsstandorte wieder „selektiv“ auf die Absicherung der Grundbedürfnisse beschränken und auf seine Umverteilungsfunk­tion verzichten, um so Milliardenbeträge freizustellen.

Defizitbremse mit qualifizier­ter Mehrheit

All diese Reformbestrebungen zielen auch darauf ab, die Ausgaben von Staat, Gemeinden und Sozial­versicherung zu senken, um bis zu den nächsten Kammerwahlen das Defizit dieses Gesamtstaats zu tilgen. Denn Ende vergangenen Jahres durfte die Kammer erneut artig einen Staatshaushalt verabschieden, der auf überholten Voraussetzungen fußte. Er ging von einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums 2012 auf zwei Prozent aus, doch im ersten Quartal 2012 lag es bei null Prozent. Glaubt man den Prognosen des Stabilitätsprogramms, das die Regierung nach Brüssel schickte, läuft sie, trotz ihres neuesten Sparpakets, Gefahr, dieses Ziel zu verpassen und die Legislaturperiode mit einem Fehlbetrag des Gesamtstaats von rund einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts abzuschließen.

Nachdem die Krisensteuer gerade zum Jahreswechsel abgeschafft worden war, beschloss die Regierung deshalb, die Solidaritätssteuer um zwei Prozentpunkte zu erhöhen, die Akzisen auf Treibstoff und Tabak heraufzusetzen und eine Mindeststeuer auf Unternehmen, die keine Steuern zahlen, einzuführen. Premier Jean-Claude Juncker nannte dies in seiner Erklärung zur Lage der Nation ein „Konsolidierungspaket“, mit dem ein Abdriften der Staatsfinanzen „in eine gefährliche Richtung“ vermieden werden soll. Doch die Staatsfinanzen driften inzwischen offenbar weiter, das Parlament hat die geplanten Steuererhöhungen noch nicht beschlossen, die Regierung hat noch nicht einmal einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Vielleicht kommen die neuen Bestimmungen Ende des Jahres mit dem Hauhaltsgesetz für 2013.

Allerdings versagt die Tripartite seit nunmehr zwei Jahren als Instrument, um den Umbau des Wirtschafts- und Sozialmodels zu legitimieren und durchzusetzen. Sie soll auf das Format des Wirtschafts- und Sozialrats zurückgestutzt werden, und ihre Funktion soll nun der am 2. März unterzeichnete Europäische Fiskalpakt, der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, übernehmen. Als Beitrag zur Schaffung einer Fiskalunion nach deutschem Vorbild verpflichtet sich auch Luxemburg, eine „Defizitbremse“ einzuführen, „Bestimmungen, die verbindlicher und dauerhafter Art sind, vorzugsweise mit Verfassungsrang, oder deren vollständige Einhaltung und Befolgung im gesamten nationalen Haushaltsverfahren auf andere Weise garantiert ist“. Das Parlament, das in der Vergangenheit klagte, nur Tripartite-Beschlüsse durchwinken zu dürfen, muss nun einen Teil seiner Kompetenz auf die EU-Kommission übertragen, wie Kammerpräsident Laurent Mosar (CSV) am Mittwoch zum Ende der Session warnte.

Doch bisher beschäftigte sich das Parlament noch nicht weiter mit  diesem Eingriff in seine Haushaltshoheit. Finanzminister Luc Frieden hinterlegte erst diese Woche den Gesetzentwurf, mit dem der Fiskalpakt im Herbst ratifiziert werden soll. Vom Sondergesetz, das mit qualifizierter Mehrheit die umstrittene Defizitbremse einführen soll, fehlt dagegen noch jede Spur. Laut Vertrag muss die Bestimmung spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags Gesetz werden.

Romain Hilgert
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