Deutschland

Die Mär von der Mitte

d'Lëtzebuerger Land du 07.09.2018

Es ist nun drei Jahre her. Jener Augusttag, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel die bekannteste, wenn zugleich auch umstrittenste Aussage zur Flüchtlingskrise traf: „Wir schaffen das“, sagte sie auf dem Höhepunkt der Migrationswelle 2015. Vorvergangene Woche – nach den Ausschreitungen in Chemnitz – hat Wolfgang Kubicki, stellvertretender Vorsitzender der FDP und Vizepräsident des Bundestags, diesen Satz Merkels aufgegriffen und ihn sogar als die „Wurzel“ für die Ereignisse in der sächsischen Stadt bezeichnet. Während Kubicki dafür auch in seiner eigenen Partei heftig kritisiert wurde, stimmte ihm der Politikwissenschaftler Werner Patzelt, Professor für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden, zu: „Wenn er damit gemeint hat, dass die Flüchtlingspolitik die Wurzel für dieses Übel ist, dann hat er Recht“, so der Wissenschaftler zu Focus Online. Kubicki, interpretiert der Dresdner Professor, habe damit ausdrücken wollen, dass die Ursachen in der leichtfertigen Migrationspolitik der Kanzlerin liege. „Merkel wollte keine Grenzkontrollen und hat mit dem Satz die Last und die Folgen auf die Zivilgesellschaft übertragen. Dieser ungedeckte Wechsel wird nun eingelöst.“ Schließlich sei die Aufnahme der vielen Flüchtlinge nur gelungen, weil so viele tausend Bundesbürger sich freiwillig engagiert hätten. „Und wenn jetzt, wie in Chemnitz wohl passiert, jemand einen Deutschen ersticht, der mit der großen Flüchtlingswelle ins Land kam, dann fragen sich viele: ‚Wir praktizieren Willkommenskultur und das ist dann der Dank dafür?’.“

Folgt man der Theorie des Wissenschaftlers, dann wären rassistische und fremdenfeindliche Ausschreitung im Westen Deutschlands und in den Metropolen des Landes weitaus wahrscheinlicher – eben dort, wo der Anteil der Flüchtlinge in Relation zur Wohnbevölkerung weitaus höher ist denn in Chemnitz, und dort, wo sich die Zivilbevölkerung in der Bewältigung der Flüchtlingskrise weitaus mehr einbrachte denn in Sachsen. In Kandel etwa, der rheinland-pfälzischen Kleinstadt, in der Anfang der Woche ein Flüchtling für den Mord an einer 15-Jährigen verurteilt wurde. Hier versuchten Rechtsextremisten ebenfalls die Bevölkerung zu radikalisieren und in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Es kam dort ebenfalls zu Protesten gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, nicht aber zu Ausschreitungen. Die Inszenierung von rechtskonservativen bis rechtsextremistischen Gruppierungen verfing nicht. In Chemnitz schon.

Sachsen hat ein strukturelles Problem mit dem Rechtsextremismus. Dies zeigte sich in den Ereignissen und Geschehnissen nach dem Mord an einem Deutsch-Kubaner in Chemnitz, etwa als der Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Täter ungeschwärzt im Internet verbreitet wurde. Doch es ist leicht, die Sachsen zu verteufeln oder ausschließlich ihnen rechtsextremistische Tendenzen zuschreiben zu wollen. In den deutschen Medien geschah die Dämonisierung der Sachsen in den vergangenen Wochen allzu voreilig. Es war ausgesprochen einfach, die Meute und ihr Publikum zu verurteilen. Damit wurden die Ereignisse gleichzeitig ins Exotische abgeschoben. So, als gäbe es völkischen Nationalismus, Rassismus, Missachtung des Rechtsstaats, Rechtsextremismus nur an der Peripherie des Landes und der Gesellschaft – in einer mittelgroßen Stadt irgendwo im Osten und ausschließlich unter Modernisierungsverlierern der Nachwende-Gesellschaft – ebenfalls eine Geschichte gescheiterter Integration. Im Rest der Republik war unterdes eitel Sonnenschein, ein viel zu heißer Sommer. Die Aufarbeitung der vergangenen Tage von Chemnitz zeigt indes, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus keine Ideologie mehr brauchen und damit längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Die Mitte der Gesellschaft normalisiert den Extremismus, dem vor allen Dingen drei Motive eigen sind: Verachtung für Menschen, des Rechtsstaats und eines gesellschaftlichen Wertekonsens.

Für diese Entwicklung hat der US-amerikanische Soziologe und Politikwissenschaftler Seymour
Martin Lipset bereits 1959 den Begriff „Extremismus der Mitte“ eingeführt. Lipset stützte sich dabei auf Untersuchungen des Wählerverhaltens bei den deutschen Reichstagswahlen in den 1930er-Jahren. Er postulierte dabei, dass der linke Extremismus seine Basis in den unteren gesellschaftlichen Schichten und der Arbeiterklasse habe, während der rechte Extremismus in den oberen Klassen verankert sei. Den Faschismus verortete er in der sozioökonomischen Mittelschicht. In den 1990er-Jahren wandelte sich der Begriff zu einem politischen Schlagwort, mit dem generelle Kritik am Gesellschaftssystem westlicher Demokratien geäußert wurde, wobei ein besonderer Fokus auf das Deutschland der Nachwendezeit gelegt wurde. Die politischen und ökonomischen Eliten würden demnach mit ihrer Positionierung in der Diskussion um Leitkultur, Multikulturalismus, Nation und Migration rechtsextremes Gedankengut fördern und damit den Weg in eine autoritäre Gesellschaft vorbereiten, beschrieb etwa Klaus Schroeder das Phänomen im Jahr 2003.

All dieser Diskussion liegt eine Grundannahme oder ein Idealbild einer politischen wie gesellschaftlichen Mitte zugrunde, deren Werte und Wertesets nicht weiter differenziert und definiert werden. Es wird stets vorausgesetzt, dass die Mitte ein Konsens an Liberalität, Weltoffenheit, Ausgewogenheit und bürgerlichen Tugenden teilt. Doch diese Annahme ist fehl, wie manche Augenblicksbegegnung zeigt. Etwa an einem Samstagabend in einem italienischen Restaurant in Berlin, in dem eine Chemnitzerin, Mitte 50, Leiterin einer Jugendeinrichtung, die Ereignisse in ihrer Heimatstadt beschreibt: „Dort sind nur einige Menschen anderen hinterhergelaufen.“

Martin Theobald
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