Deutschland

Die Abschaffung der Demokratie

d'Lëtzebuerger Land du 31.08.2018

Beschwichtigen. Das ist das Gebot der Stunde in Dresden. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer versucht mit allen Stilmitteln der politischen Rhetorik sein Bundesland, die Politik seiner Vorgänger und Extremismus wegzureden, seitdem in Chemnitz am vergangenen Wochenende Rechtsextremismus zu einer Hetzjagd auf Ausländer bliesen, Polizeibeamte Journalisten an der Arbeit hinderten und nun vermeintliche Haftbefehle gegen die beiden mutmaßlichen Mörder von Chemnitz ungeschwärzt über rechte Netzwerke im Internet verbreitet werden. „Sachsen sei immun gegen den Rechtsextremismus“, war das Mantra des früheren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf in den Neunzigerjahren. Was man nicht sehen möchte, gibt es nicht.

Hoyerswerda, Heidenau und nun auch Chemnitz. Die neuen Bundesländer gelten seit langem als Hochburg und Rückzugsort rechtsradikaler und rechtsextremistischer Ideologien. Die Historie in Sachsen: Im September 1991 belagerten etwa in Hoyerswerda teilweise bis zu 500 Menschen ein Wohnheim für ausländische Vertragsarbeiter sowie eine Flüchtlingsunterkunft. Die Polizei war überfordert. Schließlich wurden die Arbeiter unter dem Jubel der Schaulustigen aus der sächsischen Stadt gebracht. Kurz darauf griffen Rechtsextreme ein Flüchtlingsheim in Hoyerswerda an. Auch hier kapitulierte der Staat: Die Flüchtlinge wurden in andere Städte in Sicherheit gebracht. Diese Ereignisse von Hoyerswerda gelten als Auftakt der organisierten rechtsextremen Krawalle, bei denen mit Gewalt die eigenen Ziele durchgesetzt werden konnten. In den vergangenen Jahren – im Verlauf der Flüchtlingskrise – kam es immer wieder zu Übergriffen von Rechtsextremisten: 2016 überfielen mehr als 250 rechte Schläger den Leipziger Stadtteil Connewitz, in Heidenau randalierten Rechtsradikale an mehreren Tagen, in Clausnitz gab es Ausschreitungen, als dort ein Bus mit Flüchtlingen ankam.

Bei der Anzahl rechtsmotivierter Gewalttaten liegt das Bundesland seit Jahren in der Spitzengruppe der Statistik. Im vergangenen Jahr gab es laut Verfassungsschutzbericht in Sachsen 95 Gewalttaten, 2016 waren es 145 und im Jahr zuvor 201. Setzt man die Zahl in Relation zur Einwohnerzahl führt Brandenburg die Statistik an mit 85 Straftaten je eine Million Einwohner. Es folgt Sachsen mit 61 Straftaten. In den vergangenen Jahren haben Rechtsradikale gezielt Strukturen aufgebaut. Hier haben viele rechte Verlage ihren Sitz. Der Rechtsrock spielt eine wichtige Rolle, so kommen die bekanntesten Plattenlabels dieses Genres aus Sachsen. In Ostritz veranstalten Neonazis am Geburtstag von Adolf Hitler ein Rechtsrock-Festival mit rund 1 000 Besuchern. Seit Jahren finden in Dresden die „Pegida“-Demonstrationen statt – mit einem festen Besucherstamm von über 1 000 Teilnehmern. Schon in den 2000-er-Jahren organisierten hier Rechtsextreme alljährlich einen „Trauermarsch“, der zur größten Neonazi-Demonstration in Europa wurde, mit bis zu 6 500 Teilnehmern. In Freital gründeten Neonazis eine Terrorzelle. Und schließlich hatte in Sachsen der NSU sein Hauptquartier. In Chemnitz und Zwickau lebten die Rechtsterroristen – unterstützt von Neonazis aus der Region – mehrere Jahre unentdeckt. Schließlich wollte die NPD in der sächsischen Landeshauptstadt eine „Dresdner Schule“ als Denkfabrik etablieren als Gegenstück zur „Frankfurter Schule“.

In der politischen Sphäre war die neonazistische NPD zehn Jahre im sächsischen Landtag vertreten. Seitdem hält sie – im Bundesvergleich – immer noch die meisten Mandate in den regionalen und kommunalen Parlamenten des Bundeslands. Mittlerweile spielt die NPD kaum noch eine größere Rolle, doch dort, wo die NPD relativ gute Ergebnisse erzielen konnte, ist heute die AfD besonders stark. So hatte die NPD beispielsweise im Wahlkreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge bei der Bundestagswahl 2013 mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen geholt. 2017 erreichte die AfD mit 35,5 Prozent dort ihr höchstes Wahlergebnis – und wurde in Sachsen insgesamt die stärkste Partei.

Viele Soziologen und Politikwissenschaftler sagen, dass der Rechtsextremismus sich seit Jahren in einigen Regionen Deutschlands etabliert habe. Mit Blick auf Sachsen spricht der Rechtsextremismus-Experte David Begrich von einer „Generation Hoyerswerda“. Es sei „eine bittere Wahrheit, dass die Fundamente für den heutigen Rassismus und Rechtsextremismus von der ‚Generation Hoyerswerda’ gelegt wurden. Seit Mitte der 1990-er-Jahre hätten sich „in Ostdeutschland stabile und sich bis heute reproduzierende rechte Milieus entwickelt“, so Begrich. „Wer vor mehr als 20 Jahren vor den Asylbewerberheimen randalierte und Migranten angriff, teilt die kollektive biografische Erfahrung, seinen rassistischen Auffassungen mittels Gewalt nicht nur Gehör verschafft, sondern vielerorts auch zum Durchbruch verholfen zu haben. Skepsis und Ablehnung gegenüber den Regularien und Instituten der Demokratie haben in dieser Generation zugenommen.“ Die Folgen: Zwar seien die heute 40-Jährigen nicht mehr als Gewaltakteure aktiv, doch geben sie als Eltern ihre Einstellungen und Haltungen an jene weiter, die heute auf der Straße handelten.

Doch es sind nicht nur Extremisten, die sich radikalisieren lassen, sondern es ist die sogenannte bürgerliche Mitte, die rechtsradikalen und rechtsextremistischen Ideologien zustimmt. Politiker haben diese oft aufgegeben mit der lapidaren Entschuldigung, dass man diese nicht mehr erreiche. Das unentschiedene Lavieren des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmers (CDU), aber auch das Schweigen von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) machen deutlich, das es keine Antwort auf den Extremismus gibt, keinen Aufstand der Gegner. Wenn in Sachsen im kommenden Jahr gewählt werden wird, müssen wohl nie dagewesene Koalitionen geschlossen werden, um die AfD von der Regierung fernzuhalten. In Sachsen geschieht, was bereits in anderen osteuropäischen Staaten geschehen ist: Die Demokratie schafft sich mit ihren eigenen Mitteln ab. Sachsen liegt in einem Osten, schrieb der Publizist Jakob Augstein, „der von der liberalen Demokratie des Westens nichts wissen will. Vom Westen will man dort nur das Geld – nicht die Werte.“

Martin Theobald
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