d’Land: Professor Muller, als Sie dem Land vor drei Wochen ein Interview gaben, war in Luxemburg der erste Covid-19-Patient festgestellt worden. Am Mittwochabend dieser Woche gab es 1 333 Fälle, darunter acht Tote. Überrascht Sie die schnelle Entwicklung?
Claude P. Muller: Nein. Ich hatte mit vielen Fällen in kurzer Zeit gerechnet.
Vermutlich stellen heute nicht mehr viele den Vergleich zwischen Covid-19 und einer saisonalen Grippe an. Aber wer das doch tut, was antworten Sie darauf?
Dass man sich einfach anschauen soll, was in Italien los ist. Oder im Grand Est in Frankreich, wo das Gesundheitssystem überfordert ist und Patienten, die eine Intensivbehandlung benötigen, nach Deutschland und nach Luxemburg gebracht werden, wo die Lage (noch) nicht so schlimm ist. Eine derart dramatische Situation gibt es in einer winterlichen Grippesaison nicht.
Schauen wir noch einmal auf die Luxemburger Zahlen: 1 333 Fälle und acht Tote ergibt statistisch eine Mortalität von 0,6 Prozent. Deutschland hatte am Mittwoch 32 000 Fälle und 149 Tote, das sind knapp 0,5 Prozent Mortalität. Von Deutschland heißt es, dort werde viel getestet, folglich würden auch viele leichtere Fälle erfasst. In Luxemburg demnach auch?
Das ist sicherlich ein wichtiger Faktor. Auch in Luxemburg wird viel getestet, so dass viele Fälle erkannt werden, und das ist gut so. In Italien beträgt die Mortalität laut Statistik fast zehn Prozent. Ich meine, das liegt unter anderem daran, dass man dort weniger testet. Es kann auch daran liegen, dass das Virus zu einem Zeitpunkt angekommen ist, als es durch das Influenzavirus eine Weile verdeckt wurde, so dass es sich anfangs unbemerkt ausbreiten konnte. Die dichtere Wohnsituation von mehreren Generationen in beengten Verhältnissen und die Altersstruktur in Italien könnten weitere Faktoren sein.
Ersten wissenschaftlichen Studien nach soll die Mortalität bei um die 0,7 Prozent liegen. Demnach ist unser Bild vielleicht noch klarer, oder?
Ich denke schon, dass wir nur durch ausreichendes Testen ein vollständiges Bild bekommen. Es geht aber nicht um nur die Zahl der Tests, sondern auch um das, was wir daraus machen. Wichtig wäre, zu ermitteln, wo positiv getestete Personen sich infiziert haben: im Ausland oder in Luxemburg, und falls in Luxemburg, wo und unter welchen Umständen. Sind diese Leute berufstätig? In welchem Bereich? In einer Firma oder in einem Supermarkt an der Kasse oder in einem Pflegeheim – und so weiter. Es geht darum, ein Risikoprofil privater oder beruflicher Tätigkeiten zu erstellen.
Was könnte man mit solchen Informationen tun?
Gezielter intervenieren! Man könnte Personen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, mit Maßnahmen, Informationen und Schutzmasken unterstützen.
Die Gesundheitsministerin hat am Sonntag gesagt, Luxemburg sei klein und das Virus zirkuliere nun hier. Nach Hotspots zu suchen, habe keinen Sinn mehr.
Damit bin ich nicht einverstanden. Das Gesundheitsamt sollte wissen, wo unter welchen Umständen Neuinfektionen aufgetreten sind, und gezielt intervenieren. Wüssten wir zum Beispiel, dass unter den Infizierten viele Briefträger sind, könnten wir entsprechende Maßnahmen ergreifen. Wohlgemerkt: Die Briefträger sind nur ein Beispiel.
In einem Artikel im Luxemburger Wort haben Sie vergangene Woche dafür plädiert, eine landesweite Covid-19-Kartografie aufzustellen und publik zu machen. Die Gemeinden sollten ihre lokalen Fälle kennen und dementsprechend handeln. Was könnten sie denn zum Beispiel tun?
Gäbe es in einer Gemeinde besonders viele positiv Getestete, dann sollte ein Arbeitgeber, zum Beispiel ein Altersheim, die Möglichkeit haben, mit dieser Information Maßnahmen zu ergreifen. Macht es zum Beispiel Sinn, dass Personen, die im Bereich Soins à domicile arbeiten, mit jemandem zusammenleben, der einer Risikotätigkeit nachgeht? Möglicherweise gibt es Cluster, geografische oder berufliche etwa, auf die man einwirken kann. Infektions-Cluster können epidemiologisch anders angegangen werden als über das ganze Land verteilte Einzelfälle.
Achtet bei positiv getesteten Altenpflege-Mitarbeitern nicht aber schon der Betrieb darauf, dass sie zuhause bleiben, bis sie ihre Erkrankung auskuriert haben?
Natürlich bleiben positiv Getestete zuhause in Selbstquarantäne. Die Maßnahmen, die ich nannte, können auch helfen, wenn die geltenden Einschränkungen wieder aufgehoben werden. Wir können ja nicht ewig so weitermachen. Dann werden lokale Interventionen sinnvoll – gestützt auf Informationen, die digital gesammelt werden, natürlich anonymisiert. Man könnte dann zum Beispiel sagen, an diesen Personenkreis teilen wir Atemschutzmasken aus, da für ihn ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht.
In einem Tageblatt-Artikel haben Sie am Samstag einen weiteren Vorschlag gemacht: Alle sollten ein Coronavirus-Tagebuch führen und aufschreiben, wo sie jeden Tag gewesen und mit wem sie zusammengetroffen sind. Wozu wäre das gut?
Die meisten Patienten, die positiv getestet werden, haben sich vor plus/minus fünf Tagen angesteckt. Nach einer Woche wissen die meisten nicht mehr, wo sie welche Aktivitäten ausgeführt haben. Mit einem Coronavirus-Tagebuch lässt sich dies leicht ändern.
Sie meinen, alle sollten so ein Tagebuch führen?
Ja, aber nur wer positiv getestet wird, würde danach gefragt. In der gegenwärtigen Situation gibt es vermutlich nicht viel aufzuschreiben. Der Aufwand wäre für jeden gering. Notiert werden sollte, mit wem man Kontakt hatte, wie nah und wie lange, ob man selber oder die andere Person eine Schutzmaske trug und so weiter.
Sie erwähnen immer wieder die Atemschutzmasken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aber empfiehlt sie nur für infizierte Personen. Der Direktor des Luxemburger Gesundheitsamts sagt sinngemäß das gleiche.
In der augenblicklichen Situation müssen Atemschutzmasken natürlich in ausreichender Zahl für diejenigen zur Verfügung stehen, die sie beruflich dringend brauchen: Mitarbeiter des Gesundheits- und des Pflegewesens in erster Linie. Dass Privatleute mit ihnen um das knappe Angebot konkurrieren, darf nicht sein. Das bedeutet aber nicht, dass diese Masken nichts brächten. Durch Abbremsen der austretenden Atemluft und durch Auffangen von Tröpfchen reduziert sich auf jeden Fall die Infektionsgefahr. Warum werden denn in Krankenhäusern Masken getragen? Das ist auf jeden Fall ein weiterer Beitrag zum Schutz von sich selbst wie auch von anderen.
Im Internet kursieren Anleitungen zum Selbstbau von Masken. Das sollte man demnach machen?
Absolut, und damit konkurriert man nicht um die knappen Masken.
In ihrem Tageblatt-Artikel empfehlen Sie auch, man solle täglich morgens und abends einen Selbsttest machen und ihn protokollieren: Sich ruhig hinsetzen, tief einatmen, die Luft anhalten und aufschreiben, wie lange man das aushält.
Das ist ein ganz simpler Test der Lungenfunktion. Wenn man über mehrere Tage 30 Sekunden lang die Luft anhalten konnte und dies nach und nach wegen zunehmender Atemnot schwieriger wird, kann das darauf hindeuten, dass die Lungenfunktion beeinträchtigt ist.
Sollte man dann beim Hausarzt anrufen oder bei der Coronavirus-Hotline des Gesundheitsministeriums?
Dies ist im Zusammenhang mit anderen Symptomen zu bewerten, insbesondere trockenem Husten oder ansteigendem Fieber.
Oft ist die Rede davon, dass die Covid-19-Erkrankung zwei Phasen habe: Etwa eine Woche lang verlaufe sie meist milde, anschließend kann der Zustand des Patienten sich verschlimmern, womöglich sogar stark. Was passiert da mit dem Virus, was unternimmt das menschliche Immunsystem?
Das Sars-CoV-2-Virus dockt an einen Rezeptor im Nasen-Rachen-Raum an und beginnt sich zu vermehren. Das Immunsystem hält dagegen, so gut es kann. Gelingt es ihm, das Virus im Nasen-Rachen-Raum in Schach zu halten, verläuft die Erkrankung weniger schwer. Anders ist es, wenn das Virus es schafft, in die Lunge zu gelangen. Dann kann es dort zu einer starken Immunreaktion kommen. Lokal kann sie sinnvoll sein, aber breitet das Virus sich großflächig aus, greift diese Reaktion auf weite Teile der Atmungsfläche über und beeinträchtigt den Sauerstoffaustausch. Solche Patienten benötigen womöglich künstliche Beatmung.
Blicken wir noch einmal auf die offiziellen Zahlen: Europa ist heute ein Schwerpunkt der Pandemie. Aus China dagegen werden keine lokal übertragenen Fälle mehr gemeldet, nur noch importierte. Hat man dort die Lage im Griff oder können Sie sich vorstellen, dass die chinesischen Behörden nicht mehr alles an die WHO melden, um gut da zu stehen?
Ich denke, China hat seinen Ausbruch tatsächlich in den Griff bekommen. Ich hatte vor sechs Wochen gesagt, dass China dies durch die drakonischen Maßnahmen gelingen könne, für Europa war ich damals schon skeptisch.
In Luxemburg sieht es so aus, als würde die Kurve mit den Fallzahlen sich noch nicht abflachen.
Ich halte es noch für zu früh, die Kurve zu interpretieren. Die Zahl der bestätigten Covid-19-Fälle gibt an, wie die Infektionsaktivität vor gut zwei Wochen war. Im Hinblick auf den Shutdown und seine Wirkungen wird die Fallkurve in einer Woche aussagekräftiger sein.
Wenn China seinen Ausbruch in den Griff bekommen hat und in Europa die Fallkurven sich demnächst hoffentlich auch abflachen: Können die Fälle wieder zunehmen, wenn man die Maßnahmen lockert? Wuhan kehrt ja allmählich wieder zum Leben zurück.
In China kann der Ausbruch erneut aufflammen, wenn Infektionen von außen ins Land getragen werden. So gesehen, finde ich die Grenzkontrollen für den Personenverkehr innerhalb der EU notwendig. Tut man das nicht, wird die Situation in ganz Europa nie besser als in dem schwächsten Land. Es ist gewissermaßen wie mit kommunizierenden Röhren. Man kann gezielt Grenzen auf- und zumachen und gerade einem schwächelnden Land entsprechend massive Unterstützung zukommen lassen. Es ist niemandem geholfen, wenn alle Länder das Virus eingedämmt haben, es aber aus einer Ecke immer wieder neu importiert wird. Wenn es einen Impfstoff gibt, kann diese Diskussion noch einmal anders geführt werden.
Gehen Sie davon aus, dass der Ausbruch sich in Europa abschwächt, wenn es wärmer wird? Es gibt ja wissenschaftliche Studien, laut denen das nur wenig der Fall sein wird.
Das kann man noch nicht genau sagen. Einerseits werden die Maßnahmen, die nun überall in Europa in Kraft sind, etwas bewirken. Andererseits erkennt man aus den Statistiken der WHO, dass es in der südlichen Hemisphäre, wo zurzeit noch Sommer ist, deutlich weniger Fälle gibt als in der nördlichen. In Afrika ebenfalls, Hotspots scheint es – mit allen Vorbehalten – dort noch keine zu geben. Insofern bin ich zuversichtlich, dass die wärmere Jahreszeit eine gewisse Entlastung bringen wird.
Vergangene Woche wurde international eine Studie des Imperial College London viel diskutiert. Dafür war ein Modell aufgestellt worden, das Gesundheitsdaten von Covid-19 mit Maßnahmen-Szenarien zusammenbrachte, die politisch beschlossen würden. Simuliert wurde, was das für Auswirkungen hätte. Letzten Endes ergab sich aus dieser Modellierung, dass man Einschränkungen entweder monatelang aufrechterhalten müsste, oder sie nach dem Ein-Aus-Prinzip bald in Kraft setzen, bald wieder aufheben müsste – je nachdem, wie sich die Fallzahl entwickelt. Letzteres womöglich über zwei Jahre hinweg.
Das sind natürlich Modellierungen, aber sie machen Sinn. Die Aussage, die dahintersteckt, ist, dass man die Einschränkungen so lange aufrecht erhalten muss, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. Klar scheint mir: Was nun in Kraft ist, können wir nicht lange durchhalten, sonst gibt es zu viele Kollateralschäden.
Experten sagen aber, auf einen Impfstoff werden wir noch zwölf bis 18 Monate warten müssen.
Eine israelische und eine US-amerikanische Firma sind schon so weit fortgeschritten, dass sie damit beginnen, erste Freiwillige mit einem Vakzin-Kandidaten zu impfen. Die Aussichten sind also nicht so schlecht.
Aber solchen Tests an Freiwilligen schließen sich umfangreiche klinische Studien an, ehe ein Impfstoff die Zulassung erhält. Und dann stellt sich die Frage, wie schnell er in ausreichender Menge produziert werden kann.
Die Vorschriften bezüglich Studien und Zulassung sind menschengemacht. Die Frage stellt sich dann so: Halten wir uns starr an diese Regeln und nehmen Zustände wie in Italien hin? Oder halten wir das für nicht hinnehmbar und ändern die Regeln entsprechend ab?
Plädieren Sie für Letzteres?
Ich plädiere dafür, diese Frage ergebnisoffen und in Anbetracht der jeweiligen weltweiten Notsituation zu diskutieren. Dabei sollten wir nicht nur an die denken, die es sich leisten können, einen Impfstoff wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Nebenwirkungen abzulehnen, weil sie im Ernstfall von einem leistungsfähigen Gesundheitssystem aufgefangen werden. Wir sollten auch an die denken, die gerne kontrollierbare Nebenwirkungen in Kauf nehmen, weil für sie im Krankheitsfall nur ein rudimentäres Gesundheitssystem da ist.
Meinen Sie, dass es mit einem Impfstoff gelingen wird, das Sars-CoV-2-Virus zu eliminieren wie das 2003 mit dem ursprünglichen Sars-Virus gelang? Oder wird das neue Coronavirus die Menschen begleiten, ähnlich wie die Influenza?
Alleine mit einem Vakzin bekommen wir dieses Virus nicht weg. Aber wenn eines zur Verfügung steht, kann jeder individuell entscheiden, ob er sich schützen möchte. Wem das egal ist, der verzichtet auf die Impfung und geht das Risiko ein, sich anzustecken. Es könnte natürlich auch eine Pflichtimpfung werden.