Vergangene Woche war Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) in Saarbrücken, um den luxemburgischen Honorarkonsul Leo Petry zu besuchen, treffenderweise ein ehemaliger Energie-Manager und SPD-Landtagsabgeordneter. Im Begleitprogramm wünschte sich der Minister nicht nur eine saarländisch-luxemburgische Tatort-Koproduktion, sondern warb auch für die neuste Idee, den grenzüberschreitenden Straßenverkehr zu verringern: indem die in Luxemburg beschäftigten Grenzpendler wenigstens einen Tag in der Woche zu Hause blieben und Heimarbeit für ihren Betrieb in Luxemburg leisteten.
„Das ist natürlich ein Steuerproblem, das ist eine Steuerfrage, die geklärt werden muss“, gab Etienne Schneider gegenüber dem Saarländischen Rundfunk zu bedenken. „Aber ich denke, wenn wir da eine Lösung finden würden, in der wir die Mitarbeiter in Luxemburg nach Luxemburger Recht besteuern würden und dann diese Steuereinnahmen für die Tage, wo halt Heimarbeit gemacht wird, aufteilen zwischen den Staaten, in diesem Fall dann Luxemburg und Saarland, dass man da wahrscheinlich viel mehr erreichen würde als mit diesen Milliardeninvestitionen, die wir im Moment in Straßenbau, in Schienenbau, in öffentlichen Personennahverkehr investieren.“
Der Saarbrücker Zeitung vertraute der Minister an, dass er seinen Vorschlag „in den kommenden Monaten in Paris, Brüssel und Berlin“ unterbreiten werde. Man wird dann sehen, ob die Nachbarländer die Luxemburger Steuer-Rulings auf ihre Kosten vergessen haben und bereit sein werden, einen Teil der Lohnsteuer ihrer auf ihrem Staatsgebiet arbeitenden Staatsbürger an Luxemburg abzutreten. Der Vorschlag, die Telearbeit einstweilen auf einen Tag pro Woche zu beschränken, entspricht der zulässigen Obergrenze für die Besteuerung französischer Grenzpendler.
Ganz neu ist Etienne Schneiders Idee nicht. Die vor einem Jahr veröffentlichte Rifkin-Studie rät zur Förderung der Telearbeit und schlägt deshalb vor: „1 day/week: no home to work trips (particularly important for Luxembourg commuters) leads to a potential reduction of traffic by 20%, which has a huge effect on traffic congestion and related negative externalities“ (S. 113).
Angesichts der Verkehrsstaus morgens und abends ist die Bestrebung unübersehbar, die Grenzpendler schrittweise erst aus den Städten und dann aus dem Land zu drängen. Den Anfang machten die Auffangparkings, mit denen dafür gesorgt werden sollte, dass die Grenzpendler wenigstens ihre Autos möglichst nahe der Grenze zurücklassen.
Es folgte die Idee, an den Grenzen Auffangparkings nicht nur für ihre Autos, sondern für die Grenzpendler selbst einzurichten, wie das Pilotprojekt der „espaces de co-travail frontaliers“ in Esch-Belval. Als nächste Etappe sollen solche Arbeitsstätten jenseits der Grenze verlegt werden, wie das für nächstes Jahr an der A31 bei Thionville geplante S-Hub. Dort sollen Grenzpendler arbeiten, die in ihrer Wohnung nicht genügend Platz haben oder deren Betrieb eine engere Aufsicht ausüben will.
Luxemburgische und französische Beamte sollen gemeinsam die Auswirkungen auf die Sozialversicherung, die Besteuerung und das Arbeitsrecht klären. Die Handelskammer arbeitet an einer Umfrage, um herauszufinden, ob die Betriebe an solchen Gewerbezonen für Grenzpendler interessiert sind, wie sie organisiert sein müssten und wer sie bezahlen soll. Auf eine Anfrage des Abgeordneten Gusty Graas (DP) betonte Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) schon vor anderthalb Monaten, dass es nicht in Frage komme, dass der Staat Unternehmen bezuschusse, die Büros für Grenzpendler im französischen Grenzgebiet bauten.
Der Rifkin-Bericht versucht solche Ideen als schöne neue Arbeitswelt schmackhaft zu machen: „Develop co-working spaces in outskirt areas (close to borders as a first stage in Luxembourg to avoid current taxation and social protection barriers) and build adequate infrastructures that will allow for remote work, videoconferences, etc. (cf. the New World of Work). These new office spaces should be located near multimodal transports hubs for flexibility. Create a prototype in targeted areas with work spaces (from the municipalities or companies pooling) and subscription cards (per hour fees)“ (S. 113).
Der nächste Schritt soll nun die Einführung von Telearbeit sein, mit der die Grenzpendler das Staatsgebiet gar nicht mehr betreten und aus dem Ausland für Luxemburger Unternehmen arbeiten sollen, sei es in Niederlassungen Luxemburger Firmen jenseits der Grenze, sei es zu Hause. Allerdings erfuhr die Telearbeit bis heute nicht den fulminanten Aufschwung, der ihr prophezeit worden war. Viele Betriebe haben die Probleme entdeckt, die mit der effizienten Organisation der Arbeit verbunden sind, wenn ein Teil der Belegschaft zu Hause bleibt. Sie ziehen den Austausch und die Kontrolle vor, die Großraumbüros ermöglichen, weshalb die Lösung nun „co-working spaces“ im Grenzgebiet heißen soll. Firmen am Finanzplatz sorgen sich zudem um ihren Ruf bei der Kundschaft, wenn ihre Angestellten im Hoheitsgebiet der französischen oder deutschen Steuerfahnder vertrauliche Kundendaten bearbeiten.
Heim- und Telearbeit können aber nur eine Teillösung für die Verkehrsprobleme darstellen. Denn sie eignen sich nur für bestimmte Aufgaben der Büroarbeit, für Industriearbeit kommt sie kaum in Frage. Und für viele Fälle käme es die Unternehmen billiger zu stehen, die damit Beauftragten als selbstständige oder scheinselbstständige Zulieferer zu bezahlen, als sie weiterhin als Angestellte mit Sozialleistungen, Überstundenvergütung und Kündigungsschutz zu beschäftigen. Für ihren Arbeitslatz im „co-working space“ könnten sie dann sogar Stundenmiete zahlen.
Seit der Anteil der Grenzpendler an den Erwerbstätigen drastisch zugenommen hat, gibt es von vielen Seiten Versuche, sie zumindest symbolisch wieder auszugrenzen und sie materiell zu benachteiligen. Dazu wurden sie anfangs als Belastung für die Staatskasse dargestellt, weil sie ein Recht auf jene Sozialleistungen haben, für die sie Steuern und Beiträge zahlen. Der CSV-Abgeordnete Laurent Mosar (CSV) hatte die „Explosion“ der „Exportabilität“ von Sozialtransfers bereits Ende 2004 in seinem Bericht zum Haushaltsentwurf ein „beunruhigendes Phänomen“ genannt. 2009 warnte das Wahlprogramm der DP: „Export von Kindergeld ins nahe Ausland explodiert. Weit über 250 Millionen Euro müssen jährlich aufgrund europäischer Regelungen an Familienleistungen ins nahe Ausland überwiesen werden.“ Seither versuchen die wechselnden Regierungen, die Grenzpendler mit Chèques-services, Studienbörsen und anderen Konstrukten zu beachteiligen.
Diese Rechnungen gingen nahtlos in die Darstellung der Grenzpendler als ökologische Bedrohung über. CSV-Premier Jean-Claude Juncker hatte am Rententisch Panik um den 700 000-Einwohnerstaat geschürt und so die Gründung der Bürgerinitiative Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg? durch den ehemaligen Haebicht-Bürgermeister Henri Hosch provoziert. Diese Beamten und Selbstständigen aus den Randgemeinden der Hauptstadt machten vor allem die ausländischen Angestellten und Arbeiter für einen drohenden „Verkehrsinfarkt“ auf den Luxemburger Autobahnen und Nationalstraßen verantwortlich.
Die Europäische Kommission will nächstes Jahr auf Anraten ihrer Ageing Working Group die Bevölkerungsprognosen für das Jahr 2060 wieder unter die magische Grenze von einer Millionen senken, von 1,14 Millionen auf 992 924. Das Statec veröffentlichte vergangene Woche neue Projections macroéconomiques et démographiques de long terme: 2017-2060, laut denen, je nach jährlichem Wirtschaftswachstum, in 43 Jahren zwischen 996 000 und 1 162 000 Leute in Luxemburg leben werden sowie zwischen 361 000 und 448 000 Grenzpendler arbeiten.
CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler ließ schon bei seinem Krönungskonvent Mitte Oktober vergangenen Jahres keinen Zweifel daran, dass der bevorstehende Wahlkampf ein malthusianistischer sein soll. Selbst wenn man sich noch nicht endgültig über die Bevölkerungszahl im fernen Jahr 2060 einig ist, ist schon sicher, dass sie schrecklich sein wird. Während der Rifkin-Debatte am gestrigen Donnerstag im Parlament forderte Claude Wiseler in einer teilweise textidentischen Wiederholung seiner Haushaltsrede vom 23. Dezember 2016, dass angesichts der Wachstumsprognosen „die Leute ihre Sorgen ausdrücken können“. Denn Leute, die Sorgen ausdrücken, wählen konservativ.
Eine Mischung aus Sozialneid, Naturschutz und Rassismus bietet die Grundlage für eine breite politische Koalition von rechten Nationalisten über moderne Rifkin-Liberale und Rentenmaurern bis zu grünen Umweltschützern, um die eine Hälfte der Erwerbstätigen gegen die andere auszuspielen. Die CSV steht schon bereit, um an der Spitze diese Koaliton in den Wahlkampf nächstes Jahr zu ziehen. Claude Wiseler berief sich deshalb am Donnerstag auf das Mouvement écologique, das fragte, was „wir bereit sind, aufzugeben, um unser Ziel“, weniger Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum, zu erreichen.
Vor zwei Jahren hatte Außenminister Jean Asselborn (LSAP) in einer deutschen Fernseh-Talkshow über Steueroasen gescherzt: „Als kleines Land haben wir keinen Platz für so viele Häuser, deshalb haben wir so viele Briefkästen.“ Wie so oft, war die Metapher klüger als der Dichter.
Was Herr Asselborn sagen wollte: Arbeit hat einen Doppelcharakter, durch den konkret ein Stuhl oder ein Brot und abstrakt ein Wert geschaffen wird. „Wir“ wollen die beiden Funktionen trennen, wollen, dass die konkrete Arbeit in italienischen Fabriken, in indonesischen Bergwerken, in amerikanischen Versandhandelslagern, bald in saarländischen Wohnungen oder in lothingischen „co-working spaces“ und künftig auf fernen Asteroiden geleistet wird, und nur die abstrakte Arbeit ins Land gelassen wird, mittels winziger Mehrwertanteile in Form von fremden Steuern und Konzessionsabgaben – und bald vielleicht mittels Telearbeit. Zur Nachhaltigkeit des neuen Luxemburger Modells gehört, von der abstrakten Arbeit der Grenzpendler zu zehren und ihre konkrete Arbeit abzulehnen. Weil die konkrete Arbeit für Jean Asselborns kleines Land zu groß, zu laut, zu schmutzig, zu teuer und zu aufrührerisch ist, soll sie im Ausland bleiben, während ein komplexes Röhrensystem von Gesetzen, Abkommen und Zirkularen die abstrakte Arbeit chemisch rein destilliert wie kaum jemals zuvor in der Geschichte und dann nach Luxemburg leitet.