Die bisherigen Corona-Maßnahmen haben ihr Ziel verfehlt, die Spitäler zu entlasten

Bis nichts mehr geht

d'Lëtzebuerger Land du 18.12.2020

Der CSV-Abgeordnete Claude Wiseler war empört. „Ihr habt die ruhigen Monate nicht genutzt, um eine ordentliche Strategie hinzubekommen. Ihr wusstet, das sagt Ihr selber, dass eine zweite Welle kommen würde, und ihr habt sie nicht vorbereitet“, klagte er am Dienstagmorgen im Parlament an. Seine Partei habe im Sommer einen Stufenplan verlangt.

Die Vorwürfe der größten Oppositionspartei wiegen schwer: Sie wirft der DP-LSAP-Grüne-Regierung nicht weniger vor, als beim Krisenmanagement der Corona-Pandemie während der zweiten Welle versagt zu haben und beruft sich auf den jüngsten Bericht der Research Taskforce: „Surprisingly the last implemented measures seem to not have a strong effect so far and do not lead to further relaxation of the epidemic dynamics.“

Tatsächlich ist die Entwicklung der Covid-19-Neuinfektionen in den vergangenen Tagen zwar leicht sinkend und der exponentielle Trend von Ende Oktober konnte gestoppt werden, allerdings stagnieren die Zahlen auf gleichbleibend hohen Niveau: Noch immer werden pro Tag um die 500 bis 600 Menschen positiv auf Covid-19 getestet. Mit etwas Verspätung waren die Hospitalisationen gestiegen, inzwischen liegen 50 Covid-19-Kranke auf den Intensivstationen, deren Personal seit Wochen am Limit arbeitet. Es vergeht kein Tag, an dem nicht vier oder mehr Menschen mit Covid-19 sterben. Vergangene Woche ließen 43 Covid-Kranke ihr Leben.

Daran haben die verschärften Maßnahmen, die Ausgangssperre nach 23 Uhr, die geschlossenen Restaurants, die verringerte Zahl an erlaubten Kontakten daheim, nichts geändert. Der Plan der Regierung, die Infektionszahlen auf ein kontrollierbares Niveau zu bringen und dadurch die Spitäler zu entlasten, ist gescheitert, wie der linke Abgeordnete Marc Baum feststellte. Das Weihnachtsfest werden Tausende Bürger/innen mit erheblichen Beschränkungen feiern müssen. Und trotzdem haben die Abgeordneten von DP, LSAP und Grünen an diesem Dienstag erneut dieselben Maßnahmen bis 15. Januar verlängert, bleiben die Geschäfte und Shopping Malls geöffnet, lediglich das Essen und Trinken in und vor den Galerien wird verboten und Einkaufszentren müssen einen Hygieneplan aufstellen. Die Regierung appelliert an die Bevölkerung: Maske tragen, Sicherheitsabstand einhalten, zügig einkaufen und daheim nicht mehr als zwei weitere Personen zu Besuch empfangen, sowie generell größere Ansammlungen zu vermeiden.

Die Gretchenfrage lautet: Wird das reichen? Und wie geht es weiter, wenn die Menschen vom Weihnachtsfest und aus den Silvesterferien zurückkehren? Geht dann alles wieder von vorne los? Die CSV verlangt eine „langfristige Strategie bis Juli“ für die Krise, Strafrechtsexperten fordern seit Monaten ein ordentliches Infektionsschutzgesetz. Acht Monate nach Pandemiebeginn Ende Februar fehlt so ein Rechtsrahmen weiterhin, stattdessen hangelt sich die Regierung von Covid-Gesetz zu Covid-Gesetz. Dreimal wurde der Text bereits verlängert.

Die Aussicht auf einen Impfstoff ist vorerst nur ein schwacher Trost, denn es wird Monate dauern, bis die erforderlichen 65 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, um Herdenimmunität zu schaffen, räumte Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am vergangenen Freitag ein. Gleichzeitig ist von einer Impfstrategie bisher nicht viel zu hören, außer dass das Gesundheitspersonal Vorrang haben soll, so wie es auch die nationale Ethikkommission empfiehlt. Deren Position ist indes unausgegoren: Weder hatte sie auf der Pressekonferenz vor zwei Wochen eine Antwort darauf, was geschieht, sollten weite Teile des Kranken- und Pflegepersonals eine Impfung verweigern, noch konnte sie sagen, wer genau zu den vulnerablen Personen zählt, die nach den medizinischen Fachkräften prioritär geimpft werden sollen.

Dem Krisenmanagement der Koalition, das wird immer deutlicher, fehlt das Antizipieren, das weitsichtige proaktive und beherzte Handeln. Dass das wochenlange Segeln hart am Wind bei gebremsten Maßnahmen sich nicht lange würde durchhalten lassen, hatten Oppositionspolitiker und Kommentator/innen schon Anfang November gewarnt. In den Krankenhäusern und Alten-, Pflege- und Behindertenheimen arbeitet das Personal seit Wochen an der Belastungsgrenze. Und auch wenn der Erziehungsminister Claude Meisch (DP) ein ums andere Mal beteuert, es gehe ihm darum, die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen zu erhalten, ist offensichtlich: Von einem normalen Schulbetrieb und Unterricht nach Lehrplan kann aufgrund der Dauer-Improvisationen, weil wieder ein Lehrer oder ein Schüler wegen Quarantäne ausfällt, keine Rede sein.

Parallel dazu scheint die Regierung die Zutaten für eine wirksame Virusbekämpfung kaum besser zu verstehen, im Gegenteil: Die Gesundheitsministerin wirkt zunehmend ratlos. Noch immer ist wenig über die Verbreitungsweise des Virus zu erfahren. Während in Ländern wie Japan, Neuseeland oder Singapur Cluster, also Virushäufungen, genau analysiert und die Ergebnisse veröffentlicht werden, ist das hierzulande nicht der Fall: Bei rund 40 Prozent der Fälle sei der Übertragungsweg nicht eindeutig nachzuvollziehen, so die Ministerin, die am Freitag nur bereits Bekanntes wiederholte, etwa dass das Gros der Ansteckungen in den Familien stattfinde.

Es ist bekannt, dass oft einige wenige Menschen für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind: sogenannte Superspreader oder Superspreader-Events: Sie gilt es herauszufinden und erfolgreich zu isolieren, um so das Infektionsgeschehen einzudämmen. Während der ersten Infektionswelle im Frühjahr hingen viele Cluster zusammen mit Großveranstaltungen wie dem Filmfestival, Rückkehrern aus Skigebieten, die das Virus aus dem Urlaub mitgebracht hatten. Auch illegale Gottesdienste und räumlich beengte (Massen)-Unterkünfte haben bei der Virusverbreitung eine Rolle gespielt. Nachdem durch den Lockdown die Neuinfektionen im Mai drastisch gesenkt wurden, stiegen sie nach den Sommerferien erneut an: Wieder waren es Reisende, die das Virus streuten, so eine kürzlich veröffentlichte Studie des Luxembourg Institute of Health.

Offiziell ist von Regierungsseite wenig über solche Details zu hören, aus Sorge zu stigmatisieren. Doch das Tabu führt dazu, dass der Eindruck entsteht, als geschähen Ansteckungen quasi zufällig.
Über begünstigende Faktoren ist einiges bekannt: Weil das Virus über kleinste Partikel in der Atemluft übertragen wird, gelten enge und geschlossene Räume, Unterkünfte und Großveranstaltungen als ideale Übertragungsorte. Deswegen mahnt die Regierung, Massenveranstaltungen zu vermeiden, schloss Theater, Sport- und Konzerthallen. Und trotzdem dauerte es lange, bis sie sich dazu durchringen konnte, die Restaurants zu schließen. Über coronabegünstigende Arbeitsplätze und -wege, wie enge Fabrikhallen, schlecht belüftete Büros, überfüllte Transportmittel, erfährt die Bevölkerung indes so gut wie nichts.

Genauso wenig spricht die Regierung über die konkrete Lage in den Alten- und Pflegeheimen. Vielleicht kennt sie sie nicht, obschon die meisten Häuser eine Konvention mit dem Staat haben und von ihm mitfinanziert werden. Warum schnellen in einem Heim binnen zwei Tagen die Covid-19 Positiven von zuvor null auf zehn oder 20? Wie stecken sich vormals Covid-19-Negative in Krankenhäusern an? Die Sorge vor skandalträchtigen Schlagzeilen ist verständlich, zumal in einem kleinen Land. Zugleich ist die Intransparenz gefährlich, denn sie verhindert, dass Bedingungen unter die Lupe genommen, erkannt und daraus Lehren für alle gezogen werden.

Wenn Unterkünfte oder Altersheime Orte sind, in denen das Virus besonders grassiert, dann müssen Schutzvorkehrungen öffentlich hinterfragt und darf dies nicht den Heimleitungen alleine überlassen werden. Erst recht nicht, wenn die Schutzmaßnahmen Freiheitsrechte massiv beschneiden. Journalisten bekommen auf Nachfrage die Anzahl der Heime mitgeteilt, die sich in einem Szenario vier befinden (absolutes Besuchsverbot, außer bei Sterbenskranken). Diese Information bringt indes null Erkenntnisgewinn. Wären indes die jeweiligen Bedingungen vor Ort bekannt, ließe sich vielleicht besser nachvollziehen, warum in einigen Heimen die Infektionszahlen höher liegen als in anderen.

Dasselbe gilt für die Schulen. Bildungsminister Claude Meisch (DP) pochte lange darauf, Schulen und Kindertagesstätten seien keine Orte von Superspreader-Events. Mehrfach wurde er auf asymptomatisch positive Kinder hingewiesen, die durch das Contact Tracing bei Covid-19-Verdachtsfällen nicht erkannt würden. In der Parlamentsdebatte am Dienstag räumte Paulette Lenert ein, dass Kinder dasselbe, wenn nicht gar ein höheres Ansteckungsrisiko tragen wie Erwachsene. Asymptomatisch Positive können durch Large-scale Tests entdeckt werden, allerdings wurden die Null- bis Zwölfjährigen zur Rentrée deutlich weniger getestet als die Erwachsenen.

Vielleicht sind inzwischen aber zu viele Menschen infiziert, sodass es für das Virus ein Leichtes ist, von einem zum anderen zu springen. Der Kardinalfehler wäre dann: Dass die Regierung und die Gesundheitsbehörden es überhaupt so weit haben kommen lassen, dass Fälle nicht mehr genau zurückzuverfolgen sind, weil eben nicht rechtzeitig ausreichend strenge Maßnahmen verkündet wurden. Paulette Lenert sagte im Parlament, ob ihr Krisenmanagement wirksam gewesen ist, ließe sich nur im Nachhinein bestimmen. Vorrangig geht es jedoch jetzt darum, wie die anhaltend hohen Zahl an Neuinfektionen gesenkt werden kann, und wie massive Grundrechtseinschränkungen rechtlich besser abzusichern sind. Wie erreicht Luxemburg wieder ein überschaubares und kontrollierbares Infektionsgeschehen, und warum weigert sich das Ministerium, dafür eine Schwelle festzulegen? Man habe mehr Tracing-Kapazitäten als ursprünglich gedacht, manche Fälle seien in zehn Minuten zu analysieren, andere bräuchten viele Stunden, erklärte Lenert dem Land am vergangenen Freitag. Auch die Krankenhauskapazitäten konnten ausgebaut werden. Nur: Zu was führt dieser Relativismus anderes als zum Ausreizen der Belastungsgrenzen der Spitäler und des Gesundheitspersonals und zu immer mehr Toten – bis plötzlich nichts mehr geht?

Ines Kurschat
© 2024 d’Lëtzebuerger Land