Binge Watching

Familie und Land

d'Lëtzebuerger Land du 23.06.2023

Seine Ikonografie ist unvergessen: weite Prärien, massive Bergketten, ein Gefühl für die unendliche Freiheit, die bis heute den amerikanischen Traum von den grenzenlosen Möglichkeiten nährt: Der Western. Sein Heldenmythos entwickelte sich entlang der Grenze, dem Zug gen Westen; ein Bild von Männlichkeit wohnte dem Genre immer schon inne, eine Virilität, die sich mit Taten etabliert. Der Western erzählt vom Kampf um die Besiedlung und der Etablierung des Gesetzes in einem noch wilden Land. Es sind vor allem die Drehbucharbeiten von Taylor Sheridan, die dem Western neue Impulse verleihen und in einer zeitgenössischen Spielart, dem Neo-Western, mit Werken wie Hell or High Water (2016) oder der vielbeachteten Serie Yellowstone neu ausrichteten. Nach 1883, der Prequelserie zu Yellowstone auf Paramount+, spinnt Sheridan die Erzählung um die Familie Dutton und deren Heimstätte im Yellowstone-Tal in Montana mit 1923 weiter. Nach dem Tod seines Bruders James (der Siedler aus 1883) führt Jacob Dutton (Harrison Ford) gemeinsam mit seiner Frau Cara (Helen Mirren) die Ranch. Die Familie und das Land sind in Gefahr, als eine Fehde rund um das Vieh entbrennt; es ist der entschlossene Banner Creighton (Jerome Flynn), der sich im Recht sieht und das Land für sich beanspruchen will. Jacobs Neffe, Spencer Dutton (Brandon Sklenar), verdingt sich als Jäger, kennt keine Sesshaftigkeit, kein Ziel. In Afrika lernt er die abenteuerlustige Alexandra (Julia Schlaepfer) kennen, bevor die Nöte der Familie ihn zur Rückreise bewegen.

1923 situiert sich nach 1883 an der Schnittstelle des endgültigen Niedergangs der klassischen Westernzeit und dem Anbruch der Moderne, die von der zunehmenden Motorisierung und der wirtschaftlichen Depression geprägt sein wird. Alles an dem äußeren Erscheinungsbild dieser Serie ist von dieser Zeitenwende zwischen Tradition und Fortschritt mit all ihren Widersprüchlichkeiten geprägt. Der Western war nie eine politische Geschichte, sondern eine moralische, die von der gottgewollten Landnahme erzählt, ganz nach dem Leitsatz: „Seiet fruchtbar und mehret euch!“ – die biblischen Anklänge ruft allein schon der Name dieses weiteren Westernhelden ins Bewusstsein, Jakob – das Alte Testament scheint denn auch hier noch hoch gehalten zu werden. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ war wohl immer schon die Maxime der Familie Dutton. Der Grundkonflikt ist immer der gleiche, der sich auch bis Yellowstone nicht wesentlich verändern wird: Es geht um die Verteidigung von Land und Familie, eine für diese Helden rechtschaffene Sache. Der Ausbruch von Nachbarfehden bringt einem die Gesetzesvorstellung nahe, die sich im Wilden Westen etabliert hat und sich nach den Anforderungen richtet, denen sich die die Siedler im Laufe der Zeit stellen mussten. Der Besitz der Waffe zur Selbstverteidigung gilt noch bis heute, besonders bei den Republikanern. Ebenso steht da das Bild der Familie, die um jeden Preis verteidigt werden muss. Etwas unbeholfen und unfreiwillig parodistisch scheint einem da der Handlungsstrang um den abenteuerlichen, streunenden Neffen, die Episoden beschwören eine Afrika-Romanze, die an Out of Africa (1985) erinnert, dann eine Bootsfahrt wie in African Queen (1951) bis zu Titanic (1997) sich aber nur entfernt in das narrative Gesamtgefüge einfügt. Der Western wirkt bis heute mit seiner Formensprache auf das Kino der Gegenwart – so ist 1923 auch eine Metareflexion über Filmgenres und Filmgeschichte selbst. Die Serie zeigt in Ansätzen, was aus den klassischen Westernhelden geworden ist, deren einzige Entwicklungsmöglichkeit die Verlagerung der Grenze nach innen sein kann. Platziert Sheridan seine Romantisierungsbestrebungen des Westernhelden hier am Anfang des 20. Jahrhunderts, so ist der Grundton der Serie äußerst elegisch, man erahnt die Zeichen der Zeit: Die Prohibition und die Große Depression warten bereits in der nahen Zukunft mitsamt ihren ebenso mythischen Gangsterfiguren, wie John Dillinger.

Marc Trappendreher
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