Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Die Liebe in Zeiten der Cholera

d'Lëtzebuerger Land du 20.03.2020

Das Coronavirus hat das Leben verändert. Seit dem Coronavirus ist nichts mehr, wie es war. Wirklich?

Als die Regierung vergangene Woche Einschränkungen ankündigte, um die Verbreitung des Virus zu verzögern, stürmten Kunden die Kaufhäuser und kauften Proviant. Statt für 250 Euro wie üblich, füllten viele ihren Caddie für 500 Euro, berichteten Kassiererinnen. Doch wer monatlich 2 000 Euro verdient, hat nicht spontan einige hundert Euro für Hamsterkäufe flüssig.

Die Regierung empfahl den Beschäftigten, zu Hause zu bleiben und ihre Arbeit in Telearbeit zu erledigen. Damit können Angestellte, Beamte und Selbstständige im Dienstleistungs- und Verwaltungsbereich der Ansteckungsgefahr entgehen und sogar Zeit mit ihren schulfreien Kindern verbringen.

Die Bezieher der niedrigsten Einkommen sind dagegen Industriearbeiter, Verkäuferinnen, Kellner, Altenpflegerinnen, Putzfrauen. Ihre Arbeit mit Kunden, Patienten oder in der Fabrik können sie nicht von zu Hause aus am Laptop erledigen. Sie bleiben der höheren Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Das beginnt schon auf dem Weg zur Arbeit, im Bus oder in der überfüllten Bahn.

In den Jahren 1865 und 1866 wütete hierzulande die „asiatische Cholera“. Etwa 10 000 Menschen erkrankten, rund 3 500 starben. Die Opfer waren in erster Linie Tagelöhner, kleine Handwerker, Frauen und Kinder.

Was für die einen Telearbeit ist, ist für die anderen Kurzarbeit. Kurzarbeit, wenn die Geschäfte schlecht gehen, bedeutet in Zeiten der Hamsterkäufe einen bis zu 20-prozentigem Einnahmeverlust für Menschen mit ohnehin niedrigen Löhnen. Leiharbeiter und Lehrlinge haben kein Anrecht auf Kurzarbeit.

Sich wochenlang von der Welt und ihren Viren abzuschirmen, fällt den Eigen-tümern von Einfamilienhäusern im Grünen leichter als den Mietern dicht bewohnter Apartmenthäuser. Auch ihren schulfreien Kindern macht die Schließung der öffentlichen Spielplätze nichts aus. Das ist etwas Anderes als Ausgangssperren für meist gesundheitlich angeschlagene Obdachlose auf der Straße oder in dicht besetzten Unterkünften.

Seuchen werden nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum verbreitet. Sie reproduzieren die sozialen Unterschiede. In rückständigen Ländern, wie den USA, ohne allgemeine Krankenversicherung vergrößern sie sie mörderisch.

Die italienische Regierung bat ihre europäischen Partner um Hilfslieferungen von medizinischem Material. Die 26 Partner stellten sich taub. Die Europäische Zentralbank, die Italien jahrelang gedrängt hatte, am Gesundheitswesen zu sparen, wies das Land vergangene Woche ab: „We are not here to close spreads.“

Seit 2002 senkte die US-Regierung das Jahresbudget der Public Health Emergency Preparedness von 940 auf 617 Millionen Dollar. Die amerikanische Zentralbank stützte vergangene Woche die Preise der Aktien und Schuldverschreibungen mit 1,5 Billionen Dollar.

Wenn die Seuche einmal überstanden ist, folgt die Rechnung für die Rettung der vielen Kranken und der vielen Betriebe, für die Kurzarbeit, Sonderurlaube und vielleicht die Kulanz der Nachbarstaaten. Erst wenn geklärt ist, wer die Rechnung bezahlen soll, wird sich zeigen, ob das Coronavirus das Leben verändert hat, ob seit dem Coronavirus nichts mehr ist, wie es war.

Romain Hilgert
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