Werteunterricht

Machbarkeit

d'Lëtzebuerger Land du 15.01.2009

Als im Sommer 1912 eine rot-blaue Mehrheit das Schulgesetz verabschiedete, war schwere Krise angesagt. Weil der Einfluss der katholischen Kirche zu schwinden drohte, weigerte sich Großherzogin Marie-Adelheid, den Text zu unterzeichnen. Wenn nächste Woche die Abgeordneten über die neuerliche Grundschulreform entscheiden, wankt die Monarchie erneut, am alten Schulstreit liegt das aber nicht. Die Kämpfer von einst setzen heute auf die friedliche Koexistenz zwischen Religions- und Werteunterricht – und liefern damit der Opposition das Schießpulver gegen ein Gesetz ohne „Gesamtvision“. Für die Änderungen hätte es „keinen neuen Text gebraucht“, so Eugène Berger von der Demokratischen Partei. 

Das ist Wahlkampfgetöse und ziemlich übertrieben. Denn selbst ohne einheitlichen Werteunterricht hat Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) wichtige Weichen für eine Modernisierung der Schule gestellt. Kompetenzen, Lehrzyklen, Teamarbeit, die Öffnung des 60-Punkte-Bewertungsschemas – das sind Neuerungen, die, richtig umgesetzt, den Alltag in Luxemburgs Grundschulen erheblich verändern werden.

Dass der Schüler in den Fokus rückt, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber nicht, jedenfalls nicht überall. Künftig sind Lehrer per Gesetz angehalten, jeden Schüler nach Kräften zu fördern. Die Schulen sollen autonomer funktionieren, sich mittel- und langfristige Ziele stecken – und sie müssen Rechenschaft darüber ablegen, ob sie diese erreicht haben. Die Eltern haben ein Mitspracherecht, das aber stark verbesserungswürdig ist. Echte Schuldemokratie traut sich die LSAP nur als Pilotprojekt. Für das hierarchische Schulwesen ist es dennoch eine kleine Sensation, die den Lehrergewerkschaften mit einer millionenschweren Gehältererhöhung schmackhaft gemacht wurde. Schade bloß, dass die Unterstützung für die Kontrolleure – Inspektorat und Qualitätsagentur – nicht so üppig ausgefallen ist.

Und trotzdem: Ein Jahrhundertwerk ist das dreiteilige Gesetzespaket nicht. Der politische Kuhhandel, für den die CSV auf Schuldirektionen verzichtete, um im Gegenzug durchzusetzen, dass statt der Gemeinden künftig der Staat das Lehrpersonal einstellt, ist da nur ein Detail. Konsequent im Sinne der Schulentwicklung wäre es gewesen, professionellen Leitungen die anspruchsvolle Aufgabe der pädagogischen Erneuerung und deren Steuerung zu übertragen. Schwerer wiegt aber, dass die Selektionsmechanismen unangetastet bleiben: Auch unter roter Führung wurden die Orientierung am Ende der sechsten Klasse sowie die drei Zweige des Schulsystems – Classique, Technique und Préparatoire – nicht angerührt. Dass Luxemburgs mehrsprachiges Schulsystem Einwanderer- und Arbeiterkinder systematisch benachteiligt, haben Studien zur Genüge nachgewiesen. 

Mit der Umstellung auf Kompetenzen werden vielleicht überbordende Lehrpläne entschlackt, aber auch künftig müssen Schüler, um aufs klassische Gymnasium zu kommen, besser in Deutsch als in Französisch sein – eine klare Benachteiligung der romanophonen Schüler. Sie werden wohl weiterhin vorrangig in die Berufsausbildung oder ins technische Lyzeum geschleust, während ihre Kameraden, allen voran das statusbewusste Luxemburger Bürgertum, ins Classique marschieren. Wer die Anforderungen nicht schafft, dem bezahlen die Eltern eine teure Privatschule – die Portugiesen mit erhobenem Zeigefinger aus „Integrationsgründen“ und um der „sozialen Kohäsion“ willen versagt wird. Der eigentliche Skandal aber, der ungleiche Zugang zur Bildung, bleibt. 

Ines Kurschat
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