Obwohl Marseille die älteste Stadt Frankreichs ist, musste sie in Filmen jahrzehntelang die zweite Geige spielen. Paris wird in dieser Hinsicht auch so bald nicht vom Thron gestürzt. Trotzdem ist ein gewisses Interesse an der unscheinbaren Stadt am Mittelmeer zu erkennen. Unscheinbar jedoch nur für fremde Augen. In diesen Breitengraden ist der soziale Brennpunkt von Marseille bekannt und brodelt wenigstens genau so heiß wie jener in den Pariser banlieues. Jüngstes kinematografisches Beispiel: BAC Nord von Cédric Jimenez, der Codes des film de banlieue, Polizeidrama und Drogenthriller verbindet (hierzulande bei Netflix zu sehen). Jimenez’ Film war nicht der einzige Spielfilm dieses Jahr in Cannes, der Marseille als geografischen Dreh- und Angelpunkt hatte. Auch Spotlight-Regisseur Tom McCarthy lockte es in seiner französisch-amerikanischen Ko-Produktion Stillwater in die nicht ganz so stillen Wasser der Hafenstadt.
Seit Steven Soderberghs Behind the Candelabra hat sich Matt Damon nicht mehr so verwandeln dürfen wie für seine Rolle als Bill Baker in Stillwater. Sein roughneck – ein Arbeiter auf einer Ölplattform – kommt mit allem, was dazugehört: einem aus manueller Arbeit und Hamburger geformten kräftigen Körper, Ziegenbart und billiger Sonnenbrille. Damons Bill Baker scheint sich gerade zwischen Festanstellungen zu befinden und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Was ihn nicht davon abhält, aus zunächst unerklärlichen Gründen nach Marseille zu reisen. Die routinierten Bewegungen vor Ort, das „Welcome back, Mister Baker“ in der Hotel-Lobby und das allgemeine Nicht-Aufnehmen seiner neuen Umgebung wird wenige Momente später aufgeklärt. Seine Tochter sitzt seit einigen Jahren eine Gefängnisstrafe wegen Totschlags ab. Vier von im ganzen neun Jahren schon. Die Vater-Tochter-Beziehung ist distant und der Graben zwischen beiden wird schon von Anfang an klar. Sie händigt ihm einen Brief aus, den er an ihre Anwältin weiterreichen soll. Es stellt sich aber heraus, dass die neue Spur, die sie in diesem Schreiben formuliert und ihr eventuell den Weg in die Freiheit versprechen könnte, der Anwältin zu abstrakt ist und beim Richter kein offenes Ohr finden würde. Ein roughneck wäre aber kein roughneck, wenn er sich in solchen Situationen nicht selbst zu helfen wüsste. Sprachliche und kulturelle Differenzen hin oder her.
Auf dem Papier klingt Stillwater, als ob sich Matt Damon mit einem particular set of skills, Bourne-ähnlich, durch die Affäre schlagen könnte. Dem ist aber nicht so. Eine Schlägerei im zweiten Akt lässt jegliche Aussicht auf mehr mit einem immerhin schon 50-jährigen Damon zerschellen. Was McCarthy und seine Ko-Szenaristen Marcus Hinchey, sowie die Franzosen Noé Debré und Thomas Bidegain – collaborateur attitré von Jacques Audiard – interessieren, ist im Kern ein Clash der Kulturen und wie sich ein eigentlich bornierter lone wolf in einem ihm mehr als fremden Umfeld zurechtfindet. Abigail Breslin gibt der Tochterfigur eine nüchterne Sicht auf die Dinge, die trotz dem abstrakten Fünkchen Hoffnung unpathetisch resigniert auf ihre Situation zu schauen weiß. Und das obschon ihre Dialoge und Situationen alles andere als unpathetisch sind. Matt Damons Verbindung zur Schattenseite von Marseille kommt in der Figur von Camille Cottin – hierzulande schon lange eine Begriff, hat sie mit der Serie Dix Pour Cent über Netflix doch auch international Standing bekommen –, mit welcher er eine unvorhersehbare platonische Patchwork-Familie startet. Der selbstbetitelte fuckup Bill Baker baut eine Beziehung zu ihrer Tochter Maya auf und holt nach, was er mit seiner eigentlichen Tochter wohl versäumt hat. Damon ist das (wahrscheinlich rechts-reaktionäre) Rauhbein, Cottin die alleinerziehende Mutter und weltoffene Theaterschauspielerin.
Die Situationen, die sich aus dieser Konstellationen ergeben, reichen in Stillwater oft nicht über seichte Gegenüberstellungen hinaus. McCarthy und seinem Casting gelingt es dennoch, den Film nicht an seinen guten Absichten ersticken zu lassen. Vor allem ist Matt Damon Verdienst dabei nicht zu unterschätzen. Sein Figurenkonstrukt scheint auf den ersten Blick zwar zynisch – seine Starpersona, langjährige Unterstützerfigur der Demokraten, lässt sich dabei nicht ausschalten –, doch die Konsequenz in seinem Schauspiel und sein Respekt gegenüber dem ihm eigentlich fremden Wurf Mensch Bill Baker geben den Film das nötige Relief. Marseille dient letzten Endes nur (auch psychologisch) als Kulisse. Der eigentliche sozio-politische Clash in Stillwater ist jener zwischen den beiden Amerikas, der sich die letzten Jahre Mariannengraben-tief durch die amerikanische Gesellschaft zog.