Nicht erst seit Wochen, sondern seit Jahrhunderten bemühen sich die Gesetzgeber, die Ärmsten zu kriminalisieren, um Bettler und Obdachlose loszuwerden

Armut als Verbrechen

d'Lëtzebuerger Land du 28.08.2015

Wie fast in jedem Sommer wurden auch in diesem Sommer wieder Beschwerden laut, dass es eine Zumutung sei, Arme in der Hauptstadt zu sehen, insbesondere die Ärmsten, die kein Einkommen, kein Zuhause und nicht einmal Manieren haben. In den vergangenen Tagen berieten deshalb Mitglieder von Regierung, Stadtverwaltung und Polizei darüber, ob der Gesetzgeber die Armut nicht wieder drastischer zur Straftat erklären müsste, um die Armen verjagen zu können.

1766 Ob Armut eine Straftat ist oder auch Arme Rechte haben, ist allerdings eine Frage, die nicht erst diese Woche diskutiert wird. Weil schon damals „die Betteley unendlich hiesiger Landen angewachsen durch die menge eines und anderes Geschlecht Landstreichern“, erließ Kaiserin Maria Theresia, Herzogin zu Luxemburg, am 14. Dezember 1765 eine Verordnung gegen Bettler und Obdachlose, die im Februar 1766 zweisprachig in Luxemburg veröffentlicht wurde. Das Edikt schien nötig geworden, weil ähnliche Edikte von 1714, 1715, 1719, 1721, 1722, 1725, 1734, 1738, 1740, 1745, 1749 und 1752 nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hatten.

In 16 Artikeln lieferte die Kaiserin vor 350 Jahren mit feudaler Autorität Antworten auf alle Fragen, die sich dieser Tage wieder gestellt werden. Die Verordnung machte den Unterschied zwischen verbrecherischen in- und noch verbrecherischeren ausländischen Bettlern und Obdachlosen, wobei mit ausländischen oft Zigeuner gemeint waren. Wenn die inländischen nicht binnen eines Monats eine Arbeit fanden, kamen sie in Gefängnis:

IV. – Daß gesagte, hiesiger Landen gebohrne, Bettler, so bey genugsamen Kräften und im Stand seyn, sich durch Arbeiten zun ernehren, nicht mehr dürfen betteln gehen, sondern verpflichtet seyn in eines Monat Frist, nach ihrer Zuruckkunft, denen Beamten und Gerichten des Ortes zu bescheinigen, daß sie einigen Dienst, Amt, Hanthierung oder Handwerk ergriffen, oder daß sie einige Mitteln haben, sich, ohne betteln zu gehen, einiger maßen ernehren können, bey Peen, ergriffen, und bey Wasser und Brod eingekerkert zu werden.

Die ausländischen Bettler und Obdachlosen wurden ausgewiesen. Kamen sie der Ausweisung nicht nach, wurden sie ausgepeitscht. Wurden sie erneut aufgegriffen, wurden sie als Vorläufer des Casier judiciaire mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt; danach folgten noch grausamere Strafen:

V. – Daß, wann die zum Arbeiten tüchtige Bettler in gleicher Ziel von einem Monat nach ihrer Erlassung nicht bescheingen, daß sie sich im Stand gesetzet ihr Brod zu gewinnen, oder durch eines oder anderes oben vermelten Mitteln, sich ernehren zu können, sollen dieselbe außer unserer Landen Botmäßigkeit durch das Gericht des Orts, wo sie werden ertappet worden seyn, verbannet werden, bey Peen fürs erste mal mit Ruthen gestrichen, fürs zweyte mit einem glühenden Eisen gebrandmahlet, und fürs dritte mit höheren Strafen angesehen zu werden.

Als Ausdruck der Massenarmut wurde die Bettelei zu mehreren, die Mendicité en réunion oder „bandenmäßige Bettelei“ als besonders bedrohlich empfunden und besonders hart bestraft: die geballte Armut. Deshalb wurde die Bevölkerung durch Sturmläuten zu den Waffen gerufen, um gegen Gruppen von Bettlern und Obdachlosen vorzugehen:

XIII. – Im Fall daß genannte Beamten, Gerichts Leute und andere Inwohner deren offenen Städten und Platten-Lands wahrnehmen würden, daß die menge obgemelter Bettlern und Landstreichern, sich versammlete, um das Land zu streifen, und daß sie einige Unordnung darin verübten, sollen sie, ohne Zeit Verlust, die Glocke stürmen, und Lermen schlagen thun, um die Inwohner mit ihrem Gewehr versammlen, und gesagten Bettlern und Landstreichern nachfolgen zu thun, gestalt dieselbe, fals möglich, zu ergreifen und dan nach Proportion deren Unordnungen und Gewalt, so sie mögen verübet haben, in gefolg deren durch Uns hiervorn über dergleichen Fälle erlassenen Placaten abstrafen zu lassen.

Schließlich wurde für die Ergreifung jedes Bettlers und Obdachlosen eine Kopfprämie ausgesetzt:

XVI. – Und um diejenige, so ermelte Ergreifung werkstellig machen, aufzumuntern, Wir wollen und ordnen, daß sie von jedem Bettler, Landstreicher, Fremden, und nicht hiesiger Landen Gebürtigen, so sie nach obigem anberaumtem Termin arrestiren werden in so fern, daß selber dem Gericht überliefert, überwiesen und nach Inhalt gegenwärtiger Verordnung abgestraft werde, bekommen sollen zehen Florins, die welche Entgeltung das Quartier, Gebiet oder Landschaft in welchem solche Ergreifung wird geschehen seyn, bezahlen solle.

1810 Nach dem Sturz der Monarchie setzte sich das französische Besitzbürgertum im Thermidor auch gegen die Armen durch. Deshalb erklärte das hierzulande eingeführte Strafgesetzbuch des Kaiserreichs 1810 die Obdachlosigkeit prinzipiell zur Straftat:

269. Le vagabondage est un délit.

Die Strafen fielen kaum milder aus als im Ancien Régime:

271. Les vagabonds ou gens sans aveu qui auront été légalement déclarés tels, seront, pour ce seul fait, punis de trois à six mois d’emprisonnement, et demeureront, après avoir subi leur peine, à la disposition du Gouvernement pendant le temps qu’il déterminera, eu égard à leur conduite.

272. Les individus déclarés vagabonds par jugement, pourront, s’ils sont étrangers, être conduits, par les ordres du Gouvernement, hors du territoire de l’Empire.

Die öffentliche Brandmarkung mit einem glühenden Eisen auf der rechten Schulter, die 1791 abgeschafft und vom napoleonischen Recht wieder eingeführt worden war, blieb als Strafe vorgesehen:

280. Tout vagabond ou mendiant qui aura commis un crime emportant la peine des travaux-forcés à temps, sera en outre marqué.

Der Versammlung von Bettlern wurde weiterhin besonders hart bestraft:

276. Tous mendians, même invalides, qui auront usé de menaces, ou seront entrés sans permission du propriétaire ou des personnes de sa maison, soit dans une habitation, soit dans un enclos en dépendant, Ou qui feindront des plaies ou infirmités, Ou qui mendieront en réunion, à moins que ce ne ­soient le mari et la femme, le père ou la mère et leurs jeunes enfans, l’aveugle et son conducteur, Seront punis d’un emprisonnement de six mois à deux ans.

Außerdem sah das Strafgesetzbuch vor :

274. Toute personne qui aura été trouvée mendiant dans un lieu pour lequel il existera un établissement public organisé afin d’obvier à la mendicité, sera punie de trois à six mois d’emprisonnement, et sera, après l’expiration de sa peine, conduite au dépôt de mendicité.

1846 Es dauerte aber bis 1846, ehe ein Königlich-großherzoglicher Beschluß vom 11. Dezember 1846 „die Eröffnung eines Bettlerdepots im ehemaligen Hospiz zum heil. Johannes zu Luxemburg“ ankündigte, um die Ärmsten einzusperren, falls sie sich nicht dem für die Industrielle Revolution nötigen Lohnarbeitsverhältnis fügten. Der Beschluss schrieb vor:

Art. 1. – Die rüstigen Bettler beiderlei Geschlechts sollen, nach Erfüllung der durch das Gesetz verlangten Förmlichkeiten, in das Depot, welches zu Luxemburg in den vom Staate erworbenen Gebäuden des ehemaligen Hospizes vom heil. Johannes errichtet worden ist, geführt werden.

Den Zweck des Bettler-Depots erklärte Regierungspräsident Gaspard-Théodore-Ignace de la Fontaine in einem gemeinsam mit den Beschluss veröffentlichten langen Rundschreiben vom 29. Dezember 1846:

Unser Depot wird folgende Thätigkeit zeigen: Nach Erfüllung der gesetzlichen Förmlichkeiten, nemlich nachdem das Verbot des Bettelns an drei Sonntagen hintereinander öffentlich bekannt gemacht worden ist, gemäß dem Kais. Decret vom 5. Juli 1808, und nach Beobachtung des langsamen und vorsichtigen Verfahrens, welches beim ersten Anfange nothwendig ist, wird jedes Individuum, rüstig oder nicht, welches bettelnd befunden wird, vor das Polizeigericht geführt und in den Staats-Gefängnissen in Untersuchungs-Arrest festgehalten; wird es verur­theilt, so büßt es seine Haft in den Gefängnissen; nach Ablauf der Strafe wird der rüstige Sträfling, welcher mehr oder weniger zur Arbeit fähig ist, in das Depot eingesperrt und dort, unter Anwendung von Strenge in der Beköstigung, Beaufsichtigung und Arbeit, zurückgehalten, bis die Verwaltung entscheidet, daß er hinreichend gebessert, in einem Gewerbe unterrichtet, und gesittet, in Freiheit gelassen werden könne. Es braucht nicht hinzu gefügt zu werden, daß er im Depot seine religiösen Pflichten zu erfüllen in Stand gesetzt werden wird, und daß daselbst die Geschlechter getrennt sind. Der sieche Verurtheilte wird nach überstandener Strafe in die Gemeinde seines Hülfs-Domicils geführt werden, wo die Ortsbehörde für sein Unterkommen zu sorgen und ihn zu verhindern hat, sich der Bettelei zu ergeben.

1879 Als sich die Industrielle Revolution durchgesetzt hatte, verabschiedete das Parlament nach vierjährigen Vorarbeiten 1879 eine Reform des Strafgesetzbuches. Grundlage war nicht mehr das als veraltet angesehene französische, sondern das, ebenfalls auf napoleonisches Recht zurückgehende, aber 1867 an die neuen Zeiten angepasste belgische Strafgesetzbuch. Dabei wurden, weitgehend unbeachtet, die belgischen Bestimmungen über die Landstreicher und Bettler übernommen: Der Artikel, der die Obdachlosigkeit zu einer Straftat erklärte, wurde ersatzlos gestrichen, ebenso der Artikel, der die Bettelei zur Straftat machte: Armut war keine Straftat mehr – aber eine Ordnungswidrigkeit. Das Strafgesetzbuch von 1879 nannte nun in Artikel 563 6° eine „Übertretung vierter Ordnung, die mit Geldstrafen von fünfzehn bis fünfundzwanzig Franken und mit Gefängnis von einem Tag bis zu sieben Tagen“ bestraft wird, „Landstreicher und wer beim Betteln betroffen wird“. Durch das Gesetz vom 17. Januar 1863 über die Zuständigkeiten der Polizeigerichte waren die Friedensrichter mit den „Bettelei-Vergehen“ des Strafgesetzbuchs befasst.

Über die Verabschiedung der entsprechenden Artikel durch das Parlament hieß es am 3. April 1879 knapp im Kammerbericht auf der Titelseite des Luxemburger Wort: „Dann ging die Kammer zu ihrer Tagesordnung, dem Strafgesetzbuch, über und erledigte eine Menge von Artikeln, welche keine Debatte hervorriefen.“

Mit dem neuen belgischen Strafgesetzbuch wurden die Bestimmungen aus der napoleonischen Zeit beibehalten, die von Obdachlosen oder Bettlern begangene Straftaten ahndeten, wie Hausfriedensbruch, Betrug, Drohung, Gewaltanwendung, den Besitz von Einbruchswerkzeugen oder Waffen. Gleichzeitig wurden die dafür vorgesehenen Höchststrafen drastisch gesenkt, von zwei Jahren auf einen Monat, von fünf Jahren auf zwei Monate und von lebenslangem Zuchthaus auf drei Jahre Haft. Beibehalten wurde das Verbot der Mendicité en réunion.

Zwei Bestimmungen, die im belgischen Strafgesetzbuch nicht vorgesehen waren, wurden in den Luxemburger Artikel 346 als doppelte Bestrafung von Bettlern und Obdachlosen hinzugefügt:

S’ils sont condamnés à l’emprisonnement, ils pourront être mis à la disposition du Gouvernment pour le terme que le tribunal fixera, mais qui ne pourra excéder une année, à prendre cours a l’expiration de leur peine.

Le Gouvernement pourra les faire reconduire à la frontière, s’ils sont étrangers.

2008 Zum Leidwesen des Staatsrats wurde mit dem Gesetz über die Freizügigkeit der Personen und die Einwanderung vom 29. August 2008 die Strafbestimmung dem europäischen Recht geopfert, laut dem verurteilte ausländische Obdachlose und Bettler als zusätzliche Strafe ausgewiesen werden konnten. Bei dieser Gelegenheit wurde ganz unauffällig auch Artikel 563 6° des Strafgesetzbuchs abgeschafft, der Bettelei als Ordnungswidrigkeit verbot. Die damit verbundene Haftstrafe war zwar schon zuvor abgeschafft, aber die Geldbuße auf bis zu 250 Euro erhöht worden, auch wenn nicht klar war, woher die Ärmsten einen solchen Betrag herholen sollten.

Durch die Reform der Strafvollstreckung wurde zudem 1994 die Bestimmung hinfällig, laut der verurteilte Obdachlose und Bettler bis zu einem Jahr nach Verbüßung ihrer Strafe unter Polizeiaufsicht gestellt werden konnten. Ansonsten blieb das Kapitel „Des délits contre la sécurité publique, commis par des vagabonds ou des mendiants“ seit 1879 bis heute unverändert, einschließlich des Verbots der Mendicité en réunion, des verkappten „Zigeunerartikels“.

2015 Der grüne Justizminister Félix Braz meinte diese Woche unaufgeregt gegenüber Radio 100,7, dass kein Grund bestehe, das Strafrecht zu ändern, und betonte, dass Bettler und Obdachlose dieselben Bürgerrechte genössen wie Reiche. Doch auch in Zeiten des triumphierenden Neoliberalismus werden Bettler nicht einfach als Selbstständige anerkannt, deren Geschäftsmodell eine Extremform des nicht-äquivalenten Tauschs ist. Aber vielleicht ist das ihr größter Frevel, der sie bei manchen anderen Selbstständigen so verhasst macht. Deshalb werden sie nicht dem Zivil- und Handelsrecht, sondern bleiben dem Strafrecht untergeordnet. Und wie beim Kindergeld und den Studienbörsen macht inzwischen die nationale Selektivität den Unterschied zwischen guten luxemburgischer Heescherten und Strummerten und bösen Bettlern und Zigeunern aus dem Ausland.

Würde das schreiendste Elend, wie es Bettler und Obdachlose ertragen, aber durch eine Verschärfung des Strafrechts polizeilich beseitigt werden können, würde nicht seit vier Jahrhunderten nach den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen gesucht. Denn Armut ist weder eine strafrechtliche, noch eine sozialpolitische, sondern eine ökonomische Erscheinung. Und leben wir nicht in Zeiten, da ökonomische Erscheinungen als Naturgesetze dargestellt werden, die sich nur mit ökonomischen Mitteln ändern lassen?

Romain Hilgert
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