Leitartikel

Multiplicity

d'Lëtzebuerger Land du 21.08.2015

Als Luxemburg seine Goldenen Dreißiger samt automatischem Index und regelmäßigen Haushaltsmehreinnahmen genoss, überbrückte die veröffentlichte Meinung die Sommerflaute mit dem Ozonloch, dem Waldsterben und dem Lamettaeffekt. Nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise vor sechs Jahren steht erwartungsgemäß die soziale Frage wieder an erster Stelle. Berufspolitiker und Selbstständige mit teilweise fünfstelligen Monatseinkommen haben den Armen den Krieg erklärt. Laut Plurimedia verzweifelt gegen rückläufige Zuschauerzahlen ankämpfende Medien feuern sie im Namen des gesunden Volksempfindens, das heißt ihrer mittelständigen Werbekunden, an.

Sie alle treibt die Angst um, dass die ansteckendste aller Krankheiten die Armut ist. Deshalb raufen sie sich zu einer Heiligen Allianz zusammen, eine Regierung, die sich keinen Laxismus vorwerfen lassen will, ein Schöffenrat, der nur von Sauberkeit und Sicherheit träumt, ein Rechtsanwalt, der um Aufmerksamkeit bettelt, ein Sender, der im Namen der Hechtercher aus der Stad die „Heescherten an der Stad“ denunziert… Dass ihre gemeinsamen Feinde die Armen sind, verrät die großzügige Verwechslung von Bettlern, Obdachlosen, Drogensüchtiger, Zigeunern und allen anderen, die sowohl als Arbeitskräfte wie auch als Konsumenten unverwertbar sind. Und so wie Armut oft ungepflegt und übelriechend daherkommen muss, so unappetitlich sind die Hetzschriften gegen sie.

Einig ist sich die Heilige Allianz, dass Arme keinen Platz in der Hauptstadt haben, die nur ihnen gehört, die gleichzeitig als gute Stube der Bürger biedermeierlich beschränkt sein und mit Hochglanzbroschüren die High net Worth Individuals aus aller Welt bedienen will. Die mit Hilfe von City-Managern auf jeden Bus gemalte „Multiplicity“ ist keine soziale, sondern bestenfalls eine nationale Vielfalt und gilt mit Ausnahme der Boheme ab dem mehrfachen gesetzlichen Mindestlohn. Um zwecks ungetrübten Shopping-Erlebnisses die Ärmsten aus dem Einkaufszentrum der Großregion zu vertreiben, wurden die Sitzbänke in den einem französischen Werbekonzern überlassenen Bushäuschen durch Gestelle ersetzt, auf denen kein Obdachloser liegen kann.

Doch vergebens: Die Armen lassen sich nicht aus der Stadt vertreiben. Ihre Zahl aus dem In- und Ausland hat sich möglicherweise sogar nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren mit derjenigen der Reichen aus dem In- und Ausland erhöht, auch wenn der Schengen-Raum so nicht gedacht war. Auf für manche Leserbriefschreiber und Geschäftsleute geradezu unverschämte Weise beanspruchen die Armen das 1244 von Gräfin Ermesinde erteilte Stadtrecht und weigern sich, die Konsequenz aus ihrer gesellschaftlichen Nicht-Existenz zu ziehen und sich in Luft aufzulösen.

So entsteht ein Konsens, dass kein anderer Ausweg bleibt, als die Armen wie einst die Aussätzigen manu militari aus dem Stadtzentrum zu deportieren, auch um einen ungerechten Wettbewerbsnachteil gegenüber den von privaten Sicherheitsfirmen sozial befriedeten Einkaufszentren am Stadtrand zu beseitigen. Doch die durchaus hilfsbereite Polizei klagt, dass ihr rechtlich die Hände gebunden seien. Deshalb brüten die Rechtsgelehrten nun wieder über der alten Frage, wie sie Armut zu einem Straftatbestand erklären können, damit sich die Armut nicht ökonomisch oder wenigstens sozialpolitisch, sondern polizeilich beseitigen lässt. Die Gesetzgebung aus der Zeit der Armenhäuser des 19. Jahrhunderts und einige bescheidene Vorschläge des großen Jonathan Swift dürfte ihnen bis zur Eröffnung der nächsten Kammersession reichlich Anregung liefern.

Romain Hilgert
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