LEITARTIKEL

Physisch unversehrt

d'Lëtzebuerger Land du 09.06.2023

Auf perfide Weise funktioniert die Taktik von CSV und DP in er Haupstadt. Seit knapp zwei Monaten haben sie es geschafft, Sicherheit als Gemeinde-Wahlkampfthema Nummer eins zu positionieren und damit die gesamte Debatte gekapert – auch in Vorbereitung auf die Nationalwahlen. Die Ideenarmut für eine lebenswerte Stadt von morgen offenbart sich täglich. Der Erhalt des Status Quo ist das, was zählt. Das Gefühl der Unsicherheit, das allen voran Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP) heraufbeschwört, findet sein Echo in den Kommentarspalten auf RTL, wo erstaunlich viele Menschen schreiben, nach 18 Uhr könne man sich in Luxemburg-Stadt nicht mehr vor die Tür wagen. Der Grevenmacher député-maire Léon Gloden (CSV) gab im Radio 100,7 das Beispiel von einer über Nacht verwüsteten Fußgängerzone, weil „e puer Mëller Blummen eraus gerappt hunn“. Damit rechtfertigte er das Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung, was wiederum die Einführung einer Gemeindepolizei rechtfertige.

In diesem absurden Kontext ist die Sicherheit von Fußgängern und Fahrradfahrer/innen quasi aus der Diskussion verschwunden, denn damit lassen sich weitaus weniger Stimmen fangen als mit der populistischen Sicherheitsangel. Das heißt aber nicht, dass CSV und DP nicht auch für sanfte Mobilität einstünden; glückliche Kinder mit Helm machen sich gut auf Wahlplakaten. ProVelo tut sich schwer mit solchen Bekundungen, hat der städtische DP-CSV Schöffenrat ihnen doch für ihre morgige Demo etliche Steine in den Weg gelegt. Nach monatelanger Suche nach einem geeigneten Startort, der durch Veranstaltungskonflikte weder auf die Place de la Constitution noch den Knuedler gelegt werden konnte, wurde auch die Place Clairefontaine abgelehnt, wie die Fahrradorganisation auf Instagram schrieb. Das Argument der Stadtverwaltung war, die Aktion würde den Verkehr in der Rue du Fossé behindern, eine Straße, die seit mehr als zwei Jahren eigentlich nur noch von Anrainern motorisiert genutzt werden soll, sagt Jo Klein von ProVelo. Der blau-schwarze Schöffenrat will am Tag vor den Wahlen keine Fahrradlobbyisten in seinem betonierten Virgärtchen.

Der Kulturkampf um Fahrrad und Auto polarisiert, die Fronten zwischen den Maserati-fahrenden Verfechtern und ihrem Verständnis von Freiheit auf der einen und den Fahrradliebhabern auf der anderen haben sich verhärtet, und das nicht nur auf Twitter. Es ist zum Gähnen, aber eine Verbesserung der bestehenden Infrastruktur und ein weiterer Ausbau der Fahrradwege bedeuten einen Gewinn an Lebensqualität, Nachhaltigkeit und für die Gesundheit der breiten Öffentlichkeit. Mit einer grundsätzlichen Verteufelung des Autos hat all das wenig zu tun.

Hat sich die Fahrradinfrastruktur in den letzten sechs Jahren vor allem in der Hauptstadt verbessert, bleibt an Hauptverkehrspunkten noch äußerst viel zu tun, genauso wie außerhalb der Festung an den Hauptachsen in die Stadt hinein. Dort schlängeln sich vielerorts Radfahrer/innen auf mit Kleinkindern gefüllten Lastenrädern an Bussen entlang. Eine Studie, die im Zuge der Covid-Pandemie die neu installierten Pop-Up-Fahrradwege unter die Lupe nahm, fand heraus, dass sich Angebot und Nachfrage positiv bedingen. In Paris, Berlin oder Bogota, wo die bestehenden Fahrradwege während der Pandemie ausgebaut wurden, stieg die Nutzung um bis zu 48 Prozent an – und das nicht nur wetterbedingt. In Luxemburg-Stadt registrierten die vier Zählstellen im Jahr 2022 über eine Million Radfahrer/innen, ein Anstieg um 36 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese Menschen können alle ein Liedchen von ihren alltäglichen Pendelrouten singen, den zahlreichen Orten, an denen es mit anderen Verkehrsteilnehmern zu Konfliktsituationen kommt, die die physische Unversehrtheit der schwächsten Glieder im Verkehr am meisten gefährden. Ob ihre Stimmen am Sonntag einen Unterschied machen werden, bleibt abzuwarten.

Sarah Pepin
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