Studienbeihilfen und selektive Sozialpolitik

Mehr als erforderlich

d'Lëtzebuerger Land du 28.06.2013

Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise hatten CSV und LSAP 2009 noch einmal in ihr Koalitionsabkommen geschrieben: „Au niveau des transferts so­ciaux, l’objectif à moyen terme sera de freiner la croissance des dépenses en y introdui­sant davantage de sélectivité sociale.“ Damals wollten sie noch gar nicht wahrhaben, wie lange die Krise anhalten und wie stark sie die Staatsfinanzen belasten würde. Trotzdem kann man der Regierung nicht vorwerfen, ihr selbstgestecktes Ziel der Selektivität in der Sozialpolitik aus den Augen verloren zu haben.

Nun sind verschiedene Kriterien vorstellbar, nach denen staatliche Transfers ungleich verteilt werden können. An erster Stelle dürfte vielen Leuten die Einkommenslage der Bezugsberechtigten einfallen: Wer selbst viel hat, braucht weniger aus der öffentlichen Hand. CSV und LSAP entschieden sich aber trotz anderslautender Ankündigungen gegen ökonomische und für nationale Kriterien. Aus der Sicht der Regierung hat eine selektive Sozialpolitik nach nationalen Kriterien zwei entscheidende Vorteile: Es sind die einzigen, die sogar die dümmsten Wähler verstehen und bejubeln. Außerdem benachteiligen sie Leute, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind und denen dadurch eine politische Revanche schwerer gemacht wird.

Seither ist es das Ziel der nationalen Selektivität, mit abenteuerlichen Gesetzeskonstruktionen die Grenzpendler Stück für Stück vom Recht auf Kindergeld auszuschließen. Obwohl dessen „Exportabilität“ durch die Europäische Verordnung von 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitskraft gewährleistet sein und sich auch dadurch ergeben müsste, dass Wanderarbeiter hierzulande Steuern in die Staatskasse zahlen müssen.

Der erste große Wurf war CSV und LSAP schon 2008 gelungen, als sie den Grenzpendlern eine vor den Wahlen übliche Kindergelderhöhung vorenthielten, indem sie sie den Einheimischen in Naturalien zukommen ließen. So waren die Chèques-­services erfunden, die Eltern im Rathaus von Esch-Alzette, aber nicht im Rathaus des gegenüberliegenden Audun-le-Tiche abholen können, um die Kinderbetreuung zu bezahlen.

Im Jahr 2010 folgte dann die Abschaffung des Kindergelds für studierende Grenzpendlerkinder über 21 Jahren. Das Kindergeld für einheimische Studierende dieses Alters wurde gleichzeitig durch großzügige Studienbeihilfen ersetzt. Wobei die nationalen Selektionskriterien sich erneut als Gegenteil von ökonomischen Kriterien erwiesen: Seither kommen auch Studierende aus besserem Haus zu Studienbeihilfen in fünfstelliger Höhe, von denen zu träumen sie bis dahin nicht einmal auf die Idee kamen.

Auf die Klage verschiedener von ihren Gewerkschaften unterstützter Betroffenen fällte der Europäische Gerichtshof vergangene Woche ein Urteil, das wiederholt als Sieg der Gerechtigkeit gefeiert wurde. In Wirklichkeit erkannte das Gericht in den von der Regierung vorgeschobenen Rechtfertigungen „ein legitimes Ziel“, das „eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann“, also eine soziale Selektivität nach nationalen Kriterien. Allerdings gehe die Diskriminierung „über das hinaus, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels erforderlich ist“. Deshalb schlägt das Gericht vor, den privilegierteren Grenzpendler zu verschonen, der „eine dauerhafte Beschäftigung hat“ sowie hierzulande „seit längerem arbeitet“ und nur die anderen, weniger privilegierten zu diskriminieren. Die Hochschulministerin kündigte diese Woche an, dass dann eben zur sozialen Selektiviät nach nationalen Kriterien die Selektivität nach dem Kriterium der Beschäftigungsdauer hinzukommen wird.

Romain Hilgert
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