Die Politik muss in diesem Wahlkampf Farbe bekennen, findet der Ärzteverband AMMD

Die Luxemburger Gesundheitslüge

d'Lëtzebuerger Land du 27.07.2018

Der Konflikt zwischen Sozialminister Romain Schneider und der AMMD ist eskaliert. Die rote Linie des respektvollen Umgangs in Krisenzeiten wurde mehrfach, zuletzt aber unumkehrbar, überschritten: Die ebenso überhebliche wie provokative Pressemitteilung der CNS vom vergangenen 12. Juli – vom Minister scheinbar nicht mitgetragen, wohl aber toleriert –, die gezielte Provokation von Nomenklaturbeschlüssen ohne Ärztevertreter vom 13. Juli und die wohlwollende Selbstdarstellung des dem Sozialminister unterstellten, autoritären kontrollärztlichen Dienstes vom 16. Juli 2018 sind der offensichtliche Ausdruck des Unvermögens eines politischen Verantwortlichen, den hohen Ansprüchen seines Amtes gerecht zu werden. Die Unfähigkeit des Sozialministers, die Tragweite der Probleme unseres Gesundheits- und Krankenversicherungssystems zu ermessen, anzuerkennen und im konstruktiven Dialog mit einer kritischen AMMD zu lösen, könnte weitreichende Konsequenzen für die versicherte Bevölkerung haben, bliebe es bei dieser unreifen Haltung im Falle einer Neuauflage des Ministermandates.

Der Kern des Problems im ganz speziellen Luxemburger System ist die lange gepflegte Gesundheitslüge: Dem versicherten Bürger, und Wähler, wird seit Jahrzehnten wiederkehrend vorgemacht, in Luxemburg bezahle die öffentliche Hand in vollem Umfang eine Medizin, die andernorts nur privatversicherten Patienten zugänglich ist. Neben freier Arztwahl, hoher Kostenerstattung und gleicher Leistung für jeden, wird in diesem Rahmen auch die Teilhabe am medizinischen Fortschritt als selbstverständlich versprochen. Es wird aber bewusst unterlassen, die Schattenseiten des Systems und ihre Nachteile für den Patienten anzusprechen. Die CNS als Monopolist entscheidet – ohne wirkliche Kontrolle und ohne ärztliches Fachwissen – über Erstattungen von Leistungen und Medikamenten und somit über ärztliche Behandlungen. CNS und Staat haben darüber hinaus die Entscheidungsgewalt in der Nomenklaturkommission, jenem Gremium, das über den ärztlichen Leistungskatalog, also die möglichen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, befindet.

Die Lüge gegenüber der versicherten Bevölkerung besteht darin, dass einerseits öffentlich allumfassende Leistungen mit hoher Kostenerstattung versprochen werden, andererseits aber die tatsächlich möglichen Leistungen auf Umwegen, nämlich über Statutenregelungen und Nomenklaturbremse, beschränkt und eingeschränkt werden. Der Gipfel der Dreistigkeit dabei ist: Um derartige Regulationen und Restriktionen des Systems zu rechtfertigen, wird den Ärzten vorgeworfen, Kostentreiber der gesetzlichen Krankenversicherung zu sein, also entgegen jeder Deontologie Medizin aus rein wirtschaftlichen Beweggründen zu betreiben!

Wie zur Veranschaulichung hat das Luxemburger Wort vergangenen Mittwoch über die Senkung der Rückerstattung der Lymphdrainage durch die CNS berichtet. Seit dem 1. Januar 2018 werden diese speziellen Massagebehandlungen nur noch zu 70 Prozent von der Kasse übernommen, eine Entscheidung, die für viele betroffene Patienten mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden und die ohne Rücksprache mit der Ärzteschaft erfolgt ist. Die unerhörte Rechtfertigung von Sozialminister Romain Schneider und Gesundheitsministerin Lydia Mutsch in einer gemeinsamen Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zu diesem Thema, ist der Vorwurf an die Ärzteschaft, anormal viele Lymphdrainagebehandlungen zu verschreiben und somit die Kosten zu treiben. Als ob der verschreibende Arzt irgendein anderes Interesse als das seines Patienten hätte, Lymphdrainage zu verschreiben! Als ob die Patienten sich einer solchen Behandlung unterziehen würden, wenn sie es nicht bräuchten! Beide Minister liefern mit ihrer skandalösen Aussage den Beweis für unsere Kritik und stellen sich eindeutig hinter die finanziellen Interessen der CNS und somit gegen die der bedürftigen Patienten.

Die Ärzteschaft steht zwischen dem Krankenversicherungssystem und seinen versicherten Patienten wie ein Puffer zwischen Hammer und Amboss. Denn es ist unsere deontologische Pflicht als Ärzte, Medizin im Sinne unserer Patienten zu machen, ihnen anzubieten was sie brauchen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und zwar lege artis und auf der Höhe des medizinischen Fortschritts. Patienten werden nun mal vom Arzt behandelt. Der Arzt macht Medizin, nicht der Sozialminister, nicht die Gesundheitsministerin, nicht der Krankenkassenpräsident mit seinen Präsidiumsmitgliedern und schon gar nicht der Kontrollarzt.

Grundsätzlich hat die Krankenversicherung mit ihren wirtschaftlichen Interessen in der singulären Beziehung zwischen Arzt und Patient nichts verloren. Genau das tut die CNS aber, wissentlich und systembedingt.

Wie entsteht die therapeutische Beziehung zwischen Patient und Arzt? Der Patient sucht seinen Arzt mit seinen Gesundheitsproblemen auf, ein Vertrauensverhältnis wird aufgebaut und ärztliche Leistungen werden erbracht. Diese Leistungen haben einen Wert, der früher in einem Behandlungsvertrag zwischen dem Patienten und seinem Arzt definiert und schließlich honoriert wurde. Heute hält die CNS für die Vergütung der Medizin alle Hebel in der Hand, weil sie in unserem speziellen Luxemburger System über den einzig gültigen Leistungskatalog verfügt. Und somit über die Vergütung entscheiden kann, welche Medizin die Ärzte anbieten dürfen. Diese Monopolstellung bedingt zwangsläufig eine Einmischung in die Beziehung zwischen Arzt und Patient und dadurch auch eine Einschränkung der Therapiefreiheit des Arztes. Es lässt sich somit unschwer erkennen, dass auch die angebliche Therapiefreiheit der Ärzte bloß eine weitere Lüge des Systems ist.

Als Ärzteschaft ist man natürlich, im Sinne des übergeordneten Allgemeinwohls und im Einklang mit der ärztlichen Deontologie, seit jeher bereit gewesen, freiwillig an der öffentlichen Gesundheitsversorgung teilzunehmen und mit den gesetzlichen Krankenversicherungsträgern über die Bedingungen dieser Versorgung im Rahmen von Konventionen zu verhandeln. Das heute existierende System mit einer obligatorischen und automatischen Konvention für alle Ärzte, gebunden an einen willentlich mangelhaften Leistungskatalog und dessen unzureichende Finanzierung seitens der CNS, ist jedoch so nicht mehr tragbar. Will es doch die Ärzte zu einfachen Dienstleistern, man könnte auch sagen zu willfährigen Handlangern, degradieren, die eine Medizin exekutieren sollen, die von Bürokraten mit Blick auf die Finanzen des Systems festgelegt wird.

Das Ziel einer intelligenten und anpassungsfähigen Konvention zwischen Krankenversicherung und Ärzteschaft muss sein, die versicherte Bevölkerung, gemäß den Bestimmungen der Sozialgesetzgebung, in den Genuss einer möglichst breiten Gesundheitsversorgung kommen zu lassen. Das Ausmaß dieser Gesundheitsversorgung kann der Staat durch die Zahl der Leistungen und die Höhe der Kostenerstattung bestimmen, nicht aber ihren medizinischen Inhalt. Genau das ist im ach so speziellen Luxemburger System aber passiert. Das System hat den medizinischen Fortschritt ausgebremst, aus wirtschaftlichen Gründen und aufgrund einer ebenso falsch verstandenen wie verfehlten Sozialpolitik. Dies steht im krassen Widerspruch zu den Ansprüchen eines zukunfts- und prestigeträchtigen Landes, das anderswo nach den Sternen greift und große Dinge geschehen lassen will.

Die einsetzende Digitalisierung wird den nicht aufzuhaltenden medizinischen Fortschritt in naher Zukunft noch dramatisch beschleunigen und die Kluft zwischen unterversorgender CNS-Medizin und tatsächlich möglichen Leistungen signifikant vergrößern. Die herkömmlichen Methoden zur Bestimmung der Wirksamkeit von Behandlungen können mit dem digitalen Fortschritt nicht mehr mithalten, langwierig angelegte prospektive Feldstudien werden von den medizinischen Neuerungen überholt und überrannt.

Der Goldstandard bei der Behandlung vieler Krankheiten, das Nützliche und Notwendige, wie es von CNS und kontrollärztlichem Dienst interpretiert wird, ist nicht viel mehr als eine Ansammlung von Therapien, die sich bewährt haben, keinesfalls jedoch den Anspruch erheben können, die bestmögliche Behandlung für den individuellen Patienten in seiner jeweiligen Situation zu sein. Wenn Politiker also, im Namen des Staates, ihren Wählern und versicherten Bürgern eine allumfassende Gesundheitsversorgung ohne Grenzen und auf der Höhe des medizinischen Fortschritts versprechen und demnach eine gesetzliche Krankenversicherung nach den Prinzipen einer Privatversicherung anbieten wollen, müssen sie zwingend die Finanzierung des Systems diesem Versprechen anpassen. Dies ist allerdings nicht mit den Prinzipien einer solidaritätsgetragenen Krankenversicherung, die anders als die Privatversicherer nicht mit Kapitaldeckungsverfahren und Risikoprofilen arbeitet, vereinbar.

Das System hat solange funktioniert, wie der medizinische Fortschritt noch berechenbar war und die Ärzte kompensiert haben, indem sie sich jenen Fortschritt trotz mangelhaftem Leistungskatalog durch vergleichbare Leistungen haben honorieren lassen. Für ihre Patienten. Diese unbefriedigende und juristisch fragwürdige Situation ist nicht länger hinnehmbar. Die Gesundheitslüge muss entlarvt und der breiten Bevölkerung erklärt werden. Die Politik muss in diesem Wahlkampf Farbe bekennen und ihren Wählern darlegen, wie die gesetzliche Krankenversicherung morgen Grund-, Regel- und Notversorgung bezahlbar mit dem medizinischen Fortschritt in Einklang bringen will.

Als Ärzte fordern wir alle Möglichkeiten zur Ausübung einer Medizin auf der Höhe des medizinischen Fortschritts im Interesse aller Patienten. Fortschrittliche Medizin und ein gesicherter Zugang zu moderner medizinischer Versorgung müssen sich nicht ausschließen, im Gegenteil. Es bedarf allerdings anderer Regulierungsmechanismen als den heutigen von uns so scharf kritisierten.

Die Konvention, die zwischen CNS und Ärzteschaft besteht, muss neu – und frei – ausgehandelt werden und unserer fundierten Kritik Rechnung tragen. Der medizinische Leistungskatalog muss zügig auf den letzten Stand gebracht und laufend angepasst werden, was implizit eine fortschrittsorientierte Finanzierung erfordert. Deshalb ist eine Reform der Nomenklaturkommission mit ärztlicher Mehrheit zwingend notwendig. Ebenso muss die Steuerung der CNS überarbeitet werden. Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter dürfen keine Gesundheitspolitik und schon gar keine Medizin direkt beeinflussen. Gegenstand dieses Gremiums muss die Rückerstattung der Medizin und des Fortschritts werden, nicht die Einschränkung derselben.

Wenn das spezielle Luxemburger System, im unmittelbaren Umfeld konkurrierender Nachbarländer, morgen seiner versicherten Bevölkerung noch Medizin auf hohem Niveau anbieten möchte, braucht es qualifizierte, motivierte und engagierte Ärzte. Medizin wird von Ärzten gemacht, nicht von Politikern und Bürokraten. Qualitativ hochwertige Medizin ist das Resultat von erstklassigen Ärzten, nicht von Gesetzen, Vorgaben und Anordnungen aus Gesundheits- und Sozialministerien. Die ärztliche Demografie weist aber eine besorgniserregende Entwicklung auf. Einer schnell alternden Kerngruppe, die heute noch die medizinische Versorgung deckt, fehlt die Nachfolge. Der Mangel an ärztlichem Nachwuchs lässt uns unweigerlich auf eine Gesundheitsmauer zulaufen, und der Aufprall wird früher und heftiger sein als bei der besser bekannten Rentenmauer.

Händeringend werden Ärzte in ganz Europa gesucht. Die Gängelung der Ärzte in öffentlichen Gesundheitssystemen, in denen der Kostenfaktor gegenüber medizinischen Erwägungen überwiegt, hat zu einem dramatischen Rückgang der Ärztezahlen in sämtlichen Ländern geführt. Um diese Entwicklung aufzuhalten und unsere schnell wachsende Bevölkerung im In- und Ausland auch in Zukunft mit kompetenten Ärzten versorgen zu können, müssen wir dringend die Attraktivität des Arztberufes steigern und die angemessene Anerkennung dieses schwierigen und verantwortungsvollen Berufes wiederherstellen. Dazu gehören eine öffentliche wie private Finanzierung der Gesundheitskosten und eine tatsächliche ärztliche Therapiefreiheit im Sinne aller Patienten.

Unter dem Deckmantel der sozialen Gerechtigkeit und des gleichberechtigten Zugangs zu Gesundheitsleistungen wurde über Jahrzehnte politisch-ideologisch motivierte Gleichmacherei in der Luxemburger Sozialpolitik betrieben. Im ganz speziellen Luxemburger System haben wir deshalb heute einen Punkt erreicht, wo Teile der Bevölkerung dem Risiko einer medizinischen Unterversorgung ausgesetzt sind. De facto haben die Sozialminister der letzten Legislaturperioden durch die Gesundheitslüge ein System der Zwei-Klassen-Versorgung eingeführt.

Nehmen wir das allseits bekannte Beispiel der langen Wartezeiten auf MRT-Untersuchungen. Mittlerweile hat jeder begriffen, dass die Zahl an MRT-Apparaten unzureichend für die reellen Bedürfnisse der Bevölkerung ist. Dass dieser Mangel an MRT-Apparaten in direktem Zusammenhang mit der Restriktionspolitik der CNS steht, die Druck auf die jeweiligen Gesundheitsminister gemacht hat, um die Autorisierung weiterer Apparate zu unterbinden, um die zusätzlichen Kosten zu vermeiden, die durch die natürlich steigenden Untersuchungszahlen entstehen würden, wurde bisher nicht öffentlich zugegeben. Dass jene Patienten, die informiert sind und es sich leisten können, zügig, in weniger als einer Woche, im deutschen Grenzgebiet eine MRT-Untersuchung erhalten können, während jene, die diese Möglichkeit nicht haben, mit ihrer Wartezeit und letztlich mit ihrer Gesundheit dafür bezahlen, ist die skandalöse Wahrheit einer vollständig gescheiterten Krankenversicherungspolitik. Die unerhörte Rechtfertigung für dieses Vorgehen war der haltlose Vorwurf – ohne jegliche Beachtung der demografischen Entwicklung und des Fortschritts auf dem Gebiet der Radiodiagnostik – an die Ärzte, übertrieben viele MRT-Untersuchungen zu verschreiben und somit die Gesundheitskosten unnötig hochzutreiben. Jene Patienten, die hierdurch verspätet oder gar zu spät ihre Diagnose erhalten haben, dürften kein Verständnis mehr für solche falschen Argumente haben.

Die Gesundheitslüge muss der Wahrheit über den Zustand unserer Gesundheitsversorgung weichen. Es müssen tiefgreifende Konsequenzen aus den Schlussfolgerungen der Verfehlungen unseres speziellen Luxemburger Systems abgeleitet werden. Als AMMD waren und sind wir bereit, konstruktiv an einer grundsätzlichen Reform unseres Gesundheits- und Krankenversicherungssystems mitzuarbeiten, damit wir auch morgen verantwortungsvoll Medizin von den besten Ärzten auf höchstem Niveau für alle unsere Patienten anbieten können.

Alain Schmit ist Präsident des Verwaltungsrats der Association des médecins et médecins-dentistes (AMMD), Philippe Wilmes ist Mitglied des Verwaltungsrats.

Alain Schmit, Philippe Wilmes
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