Ries, Marc: Medienkulturen

BB, Burger und andere Heimatlose

d'Lëtzebuerger Land du 09.01.2003

"Als das Kind Kind war, wusste es nicht, dass es Kind war, alles war ihm beseelt, und alle Seelen waren eins..." Wie Peter Handke den Beginn von Wim Wenders' Film Der Himmel über Berlin poetisch sinnierend abheben lässt, macht sich auch Marc Ries auf die Suche nach dem Verborgenen im Alltag. Vielmehr: in der Bilderwelt des Alltags, in unserer von Medientechniken verschiedener Art bestimmten Alltagskultur. Denn auch dem oder der sich erwachsen wähnenden Fernsehzuschauer, Internetnutzerin, Fotobetrachter oder Spaziergängerin im öffentlichen Raum sind die Bilder, die auf ihn oder sie einprasseln, beseelt. Nicht auf jene kindlich-mythische Art, von der Handke spricht, doch auf unbewusste und umso komplexere Art.

Dieser unbemerkten, philosophisch-physiologischen Beseelung der Bilderwelten unserer von verschiedenen Medientechniken bestimmten Alltagskultur spürt Ries in seinem Essay-Band Medienkulturen in all ihren Verzweigungen und Verknüpfungspunkten nach. 24 Aufsätze zu den verschiedenen Erscheinungs- und Erlebnisformen medialer Alltagskultur aus 15 Jahren sind in dem Band versammelt.

Eine Sammlung, die nicht auf klassisch lineare Weise einen medientheoretischen Ansatz entwickelt und auf die verschiedenen Bereiche der Medienkultur - von der Fotografie über Film und Fernsehen hin zur Omnipräsenz von Bildern im öffentlichen Raum - anwendet: Ries nähert sich seinem Thema in Kreisbewegungen, nimmt persönliche Begegnungen, Irritationen und Wahrnehmungen zum Anlass, hinter die Kulissen zu blicken; dorthin, wo das Kind die kleinen Männchen vermutet, die all die Bilder zum Laufen bringen.

Bei Marc Ries sind diese Männchen nicht für die technisch-funktionale, sondern für die philosophische Dimension des Medialen zuständig. Sie heißen Nietzsche, Protagoras oder Platon und führen zurück zu den ganz grundsätzlichen Fragen. Sinniert Ries, ein doppelseitiges Porträt einer alternden Schauspielerin in einer Tageszeitung vor Augen, über Brigitte Bardot und die Vertrautheit mit ihren Gesichtszügen ("Was ich von diesem Gesicht als erstes weiß, ist, es bekannt zu wissen."), landet er rasch bei einer Reflexion über das Verhältnis von Körper und Technik, bei der Objektivierung des individuellen Körpers im Sinne eines gesellschaftlichen Umbruchs und schlägt mit der Begriff vom Kino als "Willenstechnik" eine Brücke zu Schopenhauer.

Das Wahrnehmbare in verdichteten Momenten ist für Ries Anlass, innezuhalten und die Elemente dessen, was wir wahrnehmen, einzeln zu untersuchen. Im Kino ist das etwa das Moment der Bewegung, das ihn zu Parmenides bringt und zur Frage der sich selbst in der Bewegung schaffenden Identität. Nicht, was erzählt wird oder wer das zu Erzählende verkörpert interessiert den Medientheoretiker, sondern die vorsymbolischen Kräfte der Bilder. Anhand der Fotografie von Brigitte Bardot verdeutlicht er so die Bedeutung der Fotografie als "mythologisches Relais", das gleichzeitig das bekannte Bild einer Person, ihr Altern und damit das Phänomen des Älterwerdens transportiert. 

Ries' Texte folgen dabei keiner systematisch-wissenschaftlichen Logik, sondern verharren in signifikanten Momenten, um dem Dahinter auf philosophisch-literarische Weise auf die Spur zu kommen. Nicht zuletzt macht der 1956 in Luxemburg geborene Philosoph und Soziologe in seinen Texten deutlich, wie sehr die Gegenwart und heutige Lebensweise von Medientechniken bestimmt, sogar erzeugt wird. Ries betätigt sich dabei nicht als Moralist oder Warner, lässt seine Texte oft in offener Form oder in einer Frage enden. Nur manchmal nimmt er sich durchaus selbstironisch das Recht, Schlüsse in polemischer Analogie zu ziehen.

Ein Plakat mit einem prall gefüllten Burger Mc Fresh zwischen trostlosen Funktionsbauten etwa weckt die Assoziationskette "Fertigteilhaus, Fertigteilkost, Fertigteilwelt", die wiederum die Frage aufwirft, wie sich "die plakative Fertigteilkonstruktion eines Burgers auf unsere Sinnlichkeit und auf unsere Orientierung" auswirkt. Schließlich erkennt er dem Burger "die affektive Quahlität einer reinen Entität" zu: "Dieses Ding da oben ist Eins, will sagen, der Burger ist nicht Lebensmittel, sondern ein Leben." Der arme Esser dagegen wird zum Heimatlosen, zum Ursprungslosen ohne Individualität und soziale Verbindung. Die unkonventionelle, fantasievolle und dabei theoretisch fundierte Verbindung seiner Interessensgebiete, die von Fotografie über Kino und öffentliche Kultur bis hin zu Architektur, Soziologie und Philosophie reicht, macht die Essays von Marc Ries zu einer anregenden und in ihrer Genauigkeit anspruchsvollen Lektüre über mediale Alltagsphänomene.

 

Marc Ries: Medienkulturen. Essays. Sonderzahl Verlag Wien 2002, 272 Seiten, 19,80 Euro. ISBN 3 85449 203

 

 

Irmgard Schmidmaier
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