Autoenkollektiv: Un siècle d'immigration au Luxembourg

"Alles ist fremd wie zu Hause"

d'Lëtzebuerger Land du 07.03.2002

Der erste Souverän, der die Stadttore der Garnisonsfestung Luxemburg Migranten öffnete, war Ludwig XIV. Zuerst belegte der Sonnenkönig die Stadt tagelang mit Kartätschenfeuer, und als sie schließlich in seine Hand fiel, stellte er fest, dass ihre Bewohner elendiglich vor sich hin darben und das Zunftleben am Boden lag. Die von ihm herbeigerufenen Tiroler Steinmetzen prägten die hiesige Friedhofskultur mit ihren Grabmonumenten aus Schiefer, die seither und auch heute noch als "typesch lëtzeburgesch" vereinnahmt sind. Die Savoyarden hielten es mehr mit den Lebenden und sponnen ein interegionales Handelsnetz zwischen Lothringen, Luxemburg, den rheinischen Städten und dem Saarland. Mit der Produktion, der Verfeinerung und dem Verkauf von Stoffen, Eisen und Papier nahmen sie jene Großregion vorweg, die sich heute als SaarLorLux-Raum fortbildet. Über diese transalpinen Wanderhändler und Manufakturengründer schreibt Antoinette Reuter in dem Sammelband Un siècle d'immigration au Luxembourg: "On aura remarqué que le migrant est à l'époque essentiellement quelqu'un qui se déplace d'un point vers un autre, alors que de nos jours il est généralement défini par le statut d'étranger, qui se caractérise par des droits moindres." Womit das zentrale Thema dieser - überfälligen - Dokumentation zu einem Kolloquium, das von der Clae im vergangenen Frühjahr initiert worden war, angeschnitten ist. Wie hat sich das Bild von dem, je nach Zeit und Überzeugung als Fremder, Unerwünschter, Arbeitnehmer und Gast empfundenen Einwanderer in der jüngeren Geschichte gewandelt oder erhalten, was für Brüche und Kontinuitäten lassen sich ausmachen?

Luxemburg, auch das hatte es beispielsweise mit Lothringen gemeinsam, galt im 19. Jahrhundert als Armenhaus Europas. Etwa ein Drittel der Bevölkerung wanderte aus der Heimat aus. Noch heute existiert in den Vereinigten Staaten eine verstreute Luxemburgisch sprechende Gemeinschaft von etwa 22.000 Menschen. Auch die in Luxemburg langsam sich entwi-ckelnde Schwerindustrie änderte daran wenig. Zwar sahen die Söhne und Enkel, deren Väter noch die Felder bestellt hatten, dass die Landwirtschaft zunehmend an Bedeutung verlor. Aber das Verschmelzen mit dem anonymen und, soweit es sich um Zuwanderer handelte, auch teilweise urbanisierten Proletariat empfand das Landvolk als sozialen Abstieg. Weil es deswegen in der Eisenindustrie beispielsweise an qualifiziertem Personal mangelte, rief man deutsche Immigranten ins Land. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts setzt ein "grand rush" (Albano Cordeiro) nach Luxemburg ein: in nur acht Jahren stellten sie rund ein Viertel der ausländischen Population. Das führte vor allem in den Zwanzigerjahren zu erheblichen Spannungen, nicht so so sehr zwischen den Einheimischen und den Einwanderern, als zwischen den überwachenden Polizeibehörden und den politisierten Immigranten. Denn gerufen hatte man nach gottesgläubigen, lammfrommen Arbeitern, und gekommen waren Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten, die ihrerseits wieder im Dauerstreit mit ihren profaschistischen Landsleuten lagen. Die Rechtspresse erging sich damals nicht nur in antisemitischen Hasstiraden, wie Lucien Blau nachweist, sondern hetzte auch gegen die "vaterlandslosen Gesellen", von denen internationalistische Subversion auszugehen drohte. In jenen Jahren fand die luxemburgische Obrigkeit auch eine hilfreiche Lösung bei der Bilanzierung der Arbeitslosigkeit. Obwohl hier die Zahl der Beschäftigten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erstaunlich niedrig lag, blieb auch die Arbeitslosigkeit statistisch unbedeutend. Der Grund für dieses sonderbare Missverhältnis: Man hatte kurzerhand 7 000 Ausländer über die Grenze gesetzt, wie Denis Scuto ironisch anmerkt. 

Der Einfluss der organisierten und politisierten italienischen Arbeiterschaft auf ihre luxemburgischen Genossen bleibt auch für die Historiker Gegenstand der Diskussion. Henri Wehenkel zitiert Gilbert Trausch, für den die massive Präsenz von ausländischen Arbeitern ein Klassenbewusstsein bei den einheimischen Lohnabhängigen verzögert habe. Er selbst schreibt, die Italiener hätten nicht nur das Gros der Teilnehmer an linken Demonstrationen gestellt, sondern auch den militanten Streik als Kampfmittel der Gewerkschaften erst eingeführt. 

Nach dem zweiten Weltkrieg boomte die Aufbauwirtschaft allenthalben. Man hielt wieder Ausschau nach billigen und willigen Arbeitskräften und suchte sie in den klerikal-autoritären Regimen in Spanien und Portugal, wo die sozialistische und syndikalistische Opposition zerschlagen war. In den Sechzigerjahren trafen die ersten Portugiesen ein. Sie stellen heute die zahlenmäßig stärkste Gruppe unter den 37,3 Prozent ausländischen Einwohnern auf luxemburgischen Territorien. Diese Zahlen wecken bei einem Teil der Bevölkerung Bedrohungsängste. Als Mittel- und Westeuropa näher zusammenrückten und das Maastrichter Vertragswerk zur Diskussion gestellt wurde, kam es in Luxemburg zu einem Revival der extremen, volkstümelnden Rechten. Zwar weist Michel Pauly in den Buch Un siècle d'immigration au Luxembourg recht überzeugend nach, dass es eine "reinblütige" luxemburgische Ethnie mit einheitlicher Sprache, "Landnahme" und linearem Geschichtsverlauf nie gegeben hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach erfreuen wir uns sogar nur deshalb einer halbwegs guten Gesundheit, weil es Blutsreinheit weder hier noch anderswo jemals gegeben hat. Dennoch verbreiteten Vereine wie Feles, Nationalbewegong, Éislecker Fräiheetsbewegong und andere Mitte der Achtziger ebenso törichte wie gehässige Gedanken über den "Ausverkauf der nationalen Identität" und die Bedrohung der luxemburgischen Scholle durch "Invasionen" von Immigranten. 

Das modifizierte Gesetz vom 28. Dezember 1995 sah zum ersten Mal die Beteiligung ausländischer Einwohner an Gemeindewahlen in Luxemburg vor. Dem Selbstverständnis der Gesetzgeber nach handelt es sich dabei genau genommen um eine den Nichtluxemburgern zuerkannte Ausnahmebefugnis, während die Wahrnehmung der politischen Rechte "im Prinzip" den Luxemburgern vorbehalten bleibt, wie Sylvain Besch schreibt.  Der befürchtete Sturm der südländischen "Horden" auf die luxemburgischen Ratshäuser blieb aus: die Beteiligung nicht-luxemburgischer EU-Bürger an den Gemeindewahlen 1999 lag bei 12,4 Prozent. Die 138 ausländischen Bewerber für die aktive Gemeindepolitik machten mal gerade 4,3 Prozent der 3 226 Kandidaten aus.

Dennoch zeigen auch die neueren Diskussionen um die magische Zahl von 700 000 Einwohnern, die bis zum Jahr 2050 hier leben sollen, dass Unsicherheit über die Zukunft des Landes weit verbreitet ist. Jean Langers formuliert es so: "N'empêche que se pose la question s'il n'existe pas de limite à la capacité d'acceuil de nouveaux migrants?" Sylvain Besch warnt dagegen in seinem Beitrag über Flüchtlingspolitik in Luxemburg: "Cette politique doit être fondée d'abord sur la prise de conscience qu la migration ne peut pas être réglée uniquement dans l'optique de contrôle, politiquement et économiquement beaucoup trop coûteuse. Dans le cadre du discours politique enfin, il est temps de se distancer de l'argument selon lequel le nombre important d'étrangers serait un problème, et que l'on évoque tant pour légitimer des attitudes restrictives ou des dérogations que pour jeter le spectre de la disparition de l'identité nationale. Outre que ce discours sonne faux dans la mesure où les étrangers ne peuvent pas être pré-sentés comme un bloc et ne peuvent pas être réduits à la seule dimension de non-national, il est susceptible de susciter l'attitude de fermeture, de repli sur soi des autochtones." 

Abwehr und Ängste prägen mittlerweile auch das Verhalten von immer mehr Jugendlichen. Claude Frisoni moniert in seinen Überlegungen zur "Caravane de l'an 2000" Statements von jungen Diskussionsteilnehmern in Wiltz. Eine ausgesuchte Gruppe hatte dort mit dem Erbherzog über Fremdenfeindlichkeit Gedanken ausgetauscht, alles sehr politically correct und recht behäbig. Später bekannte einer der Redner sich offen zu seiner Einstellung: "Es stimmt nicht, dass wir Jugoslawen nicht mögen, wir hassen sie sogar." 

Den letzten Teil des Buches bilden die Aufzeichnungen einer Diskussionsrunde von Schriftstellern über Litteratur und Migrationen. Für Jean Portante ist die geschriebene Sprache immer die Sprache der Ferne und der Fremdheit. Und der polyglotte Kosmopolit ("La mia patria è il mondo intero e la mia legge la libertà") Leonardo Zanier zitiert seinen Schweizer Freund und Übersetzer: "Alles ist fremd wie zu Hause."

 

Autorenkollektiv: Un siècle d'immigration au Luxembourg, ein Sonderband der Revue d'études interculturelles Passerelles, 260 S.,  Passerelles/ Clae/d'Lëtzebuerger Land, 22 Euro

 

 

 

Jhos Levy
© 2024 d’Lëtzebuerger Land