Die im Juli zur Unterschrift freigegebene Petition 3798 fordert das Ausschließen von LGBTQ-Themen aus dem luxemburgischen Schulunterricht. „Sensible und persönliche Themen wie Sexualität und Geschlechtsidentität müssen die Werte und Überzeugungen der Familie respektieren“, steht in der Beschreibung der Petition. Innerhalb kurzer Zeit erreichte sie die nötigen Stimmen, um im Parlament diskutiert zu werden und trat einen Wirbelsturm von Diskussionen los, die sowohl durch Unterstützung als auch Widerstand geprägt waren.
Francine Closener, LSAP-Abgeordnete und Präsidentin der Petitionskommission, drückt sich am Dienstagmorgen bei der Einleitung der Debatte diplomatisch aus: „Die Petition hat bereits für viel Aufregung gesorgt“. Vier Gegenpetitionen wurden eingereicht. Die von Marc Gerges, Verantwortlicher für Kommunikation bei der LSAP, wurde im August unter der Nummer 3281 zur Unterschrift freigegeben. Auch sie überschritt in Rekordzeit den Schwellenwert von 4 500 Unterschriften.
Helder Rui de Almeida Neves, Autor der Petition 3798, und seine Unterstützung Steve Schmitz, ehemaliges Mitglied der ADR und Liberté-Fräiheet und Gründer der Biergerpartei, finden sich am Dienstagmorgen im Plenarsaal des Parlaments ein. Nachdem Neves das Anliegen der Petition erläutert hat, können die Abgeordnete Rückfragen stellen. Schmitz beantwortete sie, Neves meldet sich für den Rest der Debatte nicht mehr zu Wort. Die beiden Petenten fordern, dass LGBTQ-Themen nicht mit Kindern unter zwölf Jahren besprochen werden und Eltern das Recht haben sollen, wie es beim Religionsunterricht vor der Trennung von Kirche und Staat der Fall war, zu entscheiden, ob ihre Kinder an einem solchen Kurs teilnehmen. Man müsse „die Werte der Familien respektieren“ sowie die „religiösen Überzeugungen“ der Eltern. Auf die Forderung reagieren Abgeordnete mit Kopfschütteln. Sexualität mit Religion gleichzustellen, ist problematisch in dem Sinne, dass man an seiner Sexualität nichts ändern kann. An seiner religiösen Zugehörigkeit schon. Bildungsminister Claude Meisch (DP) warnt, wenn die Schule solche Themen nicht umfassend behandele, „dann machen das Internet oder die sozialen Medien es“.
Auf der Tribüne, auf der ungefähr 30 Menschen der Debatte zuhören, herrscht dicke Luft. Während der Debatte werden oft die Köpfe geschüttelt, wissende Blicke ausgetauscht oder aus Frust Hände in die Luft geworfen. Manche von Schmitz Aussagen, wie die Behauptung Elton John und Freddie Mercury seien nie diskriminiert worden, werden belächelt. Die anwesende Polizistin hat die Zuhörenden mehrere Male darauf hingewiesen, sich ruhig zu verhalten.
Die Diskussion ist anstrengend zu verfolgen, Schmitz‘ Antworten haben oft keinen roten Faden, es wird aneinander vorbeigeredet. Am Ende hat Schmitz die Fragen der Abgeordneten kaum beantwortet. Was die Petitionäre genau erreichen wollen, geht in der Diskussion unter. Desinformation und Ignoranz haben den Diskurs der beiden Petenten geprägt. „Sie haben viele Behauptungen in den Raum gestellt“, sagt Francine Closener, die die Sitzung mit den Worten „Vill Meenung, wéineg Ahnung“ beendet.
Auf Nachfrage des Land, warum die Petition 3798 ursprünglich eingereicht wurde, antwortete Schmitz, „viele Menschen haben das Gefühl, dass ihre Bedenken nicht ernst genommen oder sofort in gewisse ideologische oder politische Richtungen gedrückt werden“. Er entschuldigt sich für „manche Formulierungen“ und seine „Wortwahl“. Unter „dem politischen Druck“ und durch „das Gefühl, nicht verstanden zu werden“ habe er sich falsch ausgedrückt. Welche Aussagen er genau meint, führt er nicht aus.
Gegen Ende der Debatte behauptete Schmitz voller Überzeugung, es habe noch nie „ein Hetero“ Menschen der LGBTQ-Community diskriminiert oder angegriffen, „seit Jahrhunderten nicht“. Der Abgeordnete Marc Baum (déi Lénk) beschreibt es als „unerträglich“ sowas zu hören. Yuriko Backes (DP), Ministerin für Gleichstellung und Diversität, sagt, ihr laufe es bei solchen Aussagen „ganz, ganz kalt den Rücken runter“. Am Montag wurde noch 80 Jahre Befreiung von Auschwitz gefeiert und der Opfer gedacht. In Nazideutschland wurden ungefähr 50 000 homosexuelle Männer inhaftiert, 10 000 bis 15 000 wurden in Konzentrationslager verschleppt.
Marc Gerges, Autor der Petition 3281, wird in der zweiten Debatte von der Psychotherapeutin Caroline Pull und dem Psychiater Erik Schneider begleitet. Gerges beschreibt die erste Petition als „reaktionären, autoritären und gefährlichen Ansatz“, der ein „ideologisches Verbot“ fordere. Er warnt vor „Hass, der bewusst und mit politischen Absichten“ gestreut wird, und betont, LGBTQ sei „keine Ideologie“.
Das Narrativ der „dogmatischen Geschlechterlehre“ findet seinen Ursprung in einer von der katholischen Kirche angeführten Gegenbewegung, die sich Ende der 1990er Jahre formte. Diese Bewegung stellte sich der Gender-Theorie entgegen, einem interdisziplinären Theoriestrang, der durch Autorinnen wie Judith Butler, die sich mit der Performativität von Geschlecht auseinandersetzte, und Simone de Beauvoir, die untersucht, wie Frau sein kulturell und sozial konstruiert ist, geprägt ist. Die Gender-Theorie wurde zu „Gender-Ideologie“ umgetauft und der Begriff wurde zunehmend von Rechtsaußen-Gruppierungen aufgegriffen. Heute fungiert er als Kampfbegriff gegen Feminismus und LGBTQ-Menschen und wird weiterhin von rechten Kräften genutzt. In Deutschland macht die AfD Wahlkampf mit Hetze gegen LGBTQ-Personen, die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni greift die Rechte gleichgeschlechtlicher Eltern an, US-Präsident Donald Trump hat per Dekret männlich und weiblich als einzige Geschlechter bestimmt.
Im März erschien Judith Butlers neuestes Werk mit dem Titel „Who’s afraid of gender?“ Darin analysiert sie, die Angst gewisser gesellschaftlicher Gruppen vor Veränderungen der Geschlechternormen. Butler argumentiert, dass die Weltbilder dieser Gruppen durch Phantasmen geprägt sind: Vorstellungen, Bilder oder Konstruktionen, die in Angst und Fantasie wurzeln. Phantasmen mögen nicht real greifbar sein, haben dennoch starke soziale Wirkungen. Die von Butler analysierten Phantasmen fundieren auf der Vorstellung, dass Geschlechternormen durch Homosexualität, nicht-binäre Identitäten oder Genderfluidität bedroht werden. LGBTQ-Personen werden als ultimative Gefahr für das traditionelle Familienbild und damit für die Gesellschaft, wie man sie kennt, dargestellt. Butler analysiert anhand der Fallbeispiele Russland, dem Vatikan und den USA wie autoritäre Bewegungen diese Phantasmen konstruieren und welche Wirkung sie haben.
Der Psychiater Erik Schneider warnt vor Angst, die durch „Unwissen und Fehlvorstellungen“ geprägt ist. Die „eingeschränkten Vorstellungen“ der „menschlichen Vielfalt“ hätten „in der Vergangenheit immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt, vor allem wenn Gruppen von Menschen politisch motiviert diffamiert und diskriminiert wurden“.
In der Kammer prallten am Dienstagmorgen zwei Weltanschauungen aufeinander. Die einen argumentieren mit Fakten, die andern mit Ängsten und Emotionen. Im Endeffekt ging die Debatte weniger um LGBTQ-Themen und mehr um politische Stimmungsmache, auf Kosten von LGBTQ-Menschen.