Mannes, Gast: Luxemburgische Avantgarde

Zönakel der Extreme

d'Lëtzebuerger Land du 23.08.2007

Das spannendste Buch des Jahres ist vor wenigen Wochen erschienen und stammt von Gast Mannes, der vor zwei Jahren die Ausstellung Schock und Vision. Deutsch-französische Avantgarde im Bild im Literaturzentrum Mersch organisiert hatte. Dass der Titel Luxemburgische Avantgarde befremdlich klingt, ist nicht die Schuld des Autors, sondern einer klerikal-konservativen, heimattümelden Literaturgeschichte, die während Jahrzehnten jede Form von Avantgarde totschwieg oder als Dummejungenstreich abtat. Der Traditionspflege nicht gerade dienlich war vielleicht auch, dass der Hauptpro­tagonist, Pol Michels, nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur dienstenthoben worden war; seine Rehabilita­tion begann Mannes erst vor drei Jahren mit der Anthologie Choix de textes 1917-1922. Der Mitarbeiter des Merscher Literaturzentrums und Hofbibliothekar erzählt sorgfältig dokumentiert und ohne ideologische Scheuklappen, wie sich am Ende des Ersten Weltkriegs Studenten aus bürgerlichem Haus, aber  mit ungewissen Zukunftsaussichten ästhetisch und politisch radikalisierten, als sich die Arbeiterbewegung mit den ersten Massengewerkschaften und der Spaltung der Sozia­listischen Partei, aber auch der reaktionäre Nationalismus von Siggys Nationalunioun ebenfalls radikalisierten. Die 1912 als Agel gegründete Studentenorganisation Assoss, die noch zum lokalen Fackelträger von Mai ’68 werden sollte, wurde im Umbruch des Ersten Weltkriegs "zu einem Ort intellektueller Gärung" (S. 35). In ihrer Zeitschrift "Voix des Jeunes meldete sich eine Gruppe junger Studenten zu Wort: Pol Michels, Auguste van Werveke, Pol Weber, Alice Welter und Justin Zender" (S. 38). Sie veröffentlichten im Sommer 1917 das Gründungsmanifest ihres Cénacle des Extrêmes, wie wortgewaltige Manifeste überhaupt die beliebteste literarische Form dieser Autoren zu sein schien. Bis in die frühen Zwanzigerjahre, als auch der revolutionäre Elan der Arbeiterbewegung abebbte, entwickelten sich die Positionen der Gruppe vom "utopischen Pathos und […] laizistischen Messianismus" (S. 45) weiter über den Expressionismus und Pazifismus bis hin zum Dadaismus und Kommunismus. Auch wenn die Gruppe – wie alle Avantgarden – klein war, pflegte sie Kontakte zu großen Vorbildern im Ausland: Nicolas Konert korrespondierte mit Karl Kautsky und gründete einen Luxemburger Ableger von Henri Barbusses internationalistischer Clarté, Pol Michels schrieb regelmäßig in die Ak­tion, korrespondierte mit Walther Rilla und Ret Marut/B. Traven. Im Januar 1920 erschien die erste und einzige Nummer der Zeitschrift Utopie, die den Untertitel "Wir fordern die Verbrüderung des deutsch-französischen Volkes" trug und unter anderem zwei Beiträge Wieland Herzfeldes und zwei dadaistische Gedichte Michels enthielt. Mannes entdeckte ein Exemplar dieser bisher unbekannten Luxemburger Zeitschrift im Literaturarchiv Marbach. Als "sozialistische Studenten" veröffentlichte die Gruppe aber auch in den gerade gegründeten Zeitungen der Arbeiterbewegung, wie der Schmiede und dem Kampf. Mannes bescheinigt den damals gerade Zwanzigjährigen, "zum ersten Mal in Luxemburg ein modernes Intel­lektuellenverständnis vorgeführt" zu haben (S. 319). Sie hätten sich im Austausch mit den Avantgarden der Nachbarländern entwickelt, aber auch nationale Eigenarten hervorgebracht: Die Luxemburger Avantgar- de sei durchwegs zweisprachig gewesen und habe sich um den Kulturtransfer zwischen Frankreich und Deutschland bemüht – also ähnlich wie die liberalen Mischkultur-Theoretiker und die Colpacher Arbed-Mäzenen ihrer Zeit. Das Buch behandelt die literarische Avantgarde um den Ersten Weltkrieg. Zu der Zeit schien die Literatur fortgeschrittener als die bildende Kunst oder die Musik hierzulande. Heute ist es eher umgekehrt: Die Literatur ist konventionell und langweilig, während bildende Künstler und Musiker  im internationalen Vergleich oft auf der Höhe ihrer Zeit sind. Doch den Avantgardegedanken haben inzwischen die Postmoderne und das Ende des Kalten Kriegs kassiert.

Gast Mannes: Luxemburgische Avantgarde. Zum europäischen Kulturtransfer im Spannungsfeld von Literatur, Politik und Kunst zwischen 1916 und 1922. Phi, Esch-Alzette, 2007, 423 S., 33 Euro.

 

Romain Hilgert
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