Es sollte der große Wurf, der frische Wind, der Aufbruch in allen Stimmungen werden. Vor allem aber der linken Politik in Deutschland neuen Atem einhauchen: Anfang Mai kürte die Partei Die Linke Janine Wissler und Dietmar Bartsch zu den Spitzenkandidaten für die kommende Bundestagswahl Ende September. „Für all diejenigen, die ungerecht behandelt werden, für die sind wir da“, beschwor Bartsch in seiner Dankesrede die Parteibasis. Das werde man im Wahlkampf deutlich machen – „selbstbewusst und zuversichtlich“, wie Amira Mohamed Ali, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei im Bundestag, sekundierte.
Allein der Parteibasis fehlt der Glaube. Und die Meinungsumfragen geben ihr Recht. Derzeit dümpelt Die Linke zwischen sechs und sieben Prozent. Tendenz sinkend. Manch einer glaubt, dass die Partei im Herbst nicht einmal mehr die Fünfprozent-Hürde nehmen wird. Vor vier Jahren fuhr die Linke noch 9,2 Prozent ein. Damit wäre dann der Absturz der Partei manifestiert. Einhergehend mit dem Verlust an Ressourcen, gut dotierten Arbeitsplätzen und staatlichen Zuwendungen und vor allen Dingen an bundespolitischer Bedeutungslosigkeit. Doch selbst diese Aussicht ficht die Parteioberen nicht. Sie führt Die Linke schnurstracks in eine Polarisierung um die politische Positionierung: Identitäts- und Genderpolitik, offene Grenzen und antirassistische Symbolpolitik versus linke Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Rotrotgrün im Bund versus Fundamentalopposition. Es ist für die Wähler schwer auszumachen, wofür die Partei überhaupt steht. Als Antwort darauf übt sich der Parteivorstand in Zweckoptimismus. Spitzenkandidat Bartsch ist „überzeugt, dass wir im September zweistellig werden können.“
Allein er macht die Rechnung ohne die Wähler. Diese sind höchst wankelmütig und der Nimbus einer Protestpartei, einer Anti-System-Partei, haben die Linken längst verloren. Mit den entsprechenden Wählerbewegungen. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor die Linke 430 000 Stimmen an die AfD – besonders im Osten. Bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 waren es 27 000 Wähler, die einst links, dann rechts ihr Kreuz machten. Diese Wanderschaft gab es insbesondere in den traditionell linken Klientelen Arbeiterschaft und Erwerbslose.
Es mag sein, dass die Partei am Ende ihrer Geschichte angekommen ist. Nach der Wiedervereinigung von Ost und West, wurde die damalige Vorgängerpartei PDS im Osten als „authentische Stimme“ wahrgenommen, im Westen als „SED-Nachfolgepartei“. Dies änderte sich zu Beginn des Jahrtausends. Damals wandten sich nach den Beschlüssen zur „Agenda 2010“ und den damit einhergehenden Hartz-IV-Beschlüssen viele enttäuschte Wählerinnen und Wähler von der SPD ab. Im Westen gründete sich die „Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG), die mit der PDS 2005 ein Wahlbündnis einging und schließlich 2007 zur Partei Die Linke fusionierten – mit zwei Parteiflügeln der Realpolitik in den ostdeutschen Bundesländern und der Fundamentalpolitik im Westen. Entsprechende Gräben und Grabenkämpfe im Parteigefüge inbegriffen.
Dies zeigt sich am deutlichsten an der Basis. Die Mitgliedschaft rekrutiert sich nicht mehr aus der Arbeiterschaft oder aus den Gewerkschaften, sondern akademische Menschen aus urbanen Milieus bilden zunehmend die Funktionärsebene. Mit ihnen kommen auch neue Themen und eine neue programmatische Ausrichtung hin zu einer postmodernen und ökolibertären Partei. Doch diese Position ist im deutschen Politspektrum bereits besetzt: durch die Grünen. Die ehemalige Fraktionsvorsitzende im Bundestag Sahra Wagenknecht setzte dabei den Kontrapunkt: „Manche glauben, wir müssten auf der grünen Welle mitschwimmen, um Wählerinnen und Wähler abzubekommen. Das ist zu kurz gedacht. Die Themen, bei denen der Linken Kompetenz zugeschrieben wird, sind der der Arbeitsmarkt und die soziale Frage. Davon haben wir uns leider wegbewegt. Darauf müsste die Linke setzen.“
Die Linke bezieht derzeit zu vielen Themen keinerlei Position oder sendet unterschiedliche Signale. Während ein Teil der Genossinnen und Genossen eine „No Covid“-Politik fordert, beklagen andere die massiven Grundrechtseinschränkungen und bringen sich und die Partei so in die Nähe zu den Corona-Leugnern. Gleiches gilt in der Klimapolitik. Lagerübergreifend ist man sich einig, dass „die Reichen“ alles zahlen sollen, doch was genau und wie bleibt ungenannt. Auch das Wahlprogramm, das am vorvergangenen Wochenende verabschiedet wurde, gibt keine Antworten. Oder verheddert sich in Widersprüchen. Gefordert wird etwa eine Industriestruktur, die „unabhängiger vom Export“ sein soll, bei gleichzeitig massiven Investitionen etwa in die Umwelttechnologie, die nun einmal eindeutig exportorientiert ist. Hinsichtlich Europa soll die EU als Institution gestärkt und mit einem Riesenetat sowie weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden, andererseits sollen viele Entscheidungen wieder den nationalen Parlamenten übertragen werden. Ein Austritt Deutschlands aus der Nato wird nicht länger explizit gefordert, aber jegliche Beteiligung an Auslandseinsätzen des Bündnisses vehement abgelehnt – auch Ausbildungsmissionen oder Stationierungen in EU-Staaten.
Getragen wird eine Partei stets vom Spitzenpersonal. Hier scheint es, als halte allein Spitzenkandidat und Fraktionsvorsitzender im Bundestag Dietmar Bartsch die Linke mit seiner Erfahrung in Parteiarbeit zusammen. Co-Spitzenkandidatin und Parteivorsitzende Janine Wissler sitzt seit 2008 im hessischen Landtag und hat ihre politische Heimat im trotzkistischen, proislamistischen Netzwerk Marx21. Lange lehnte sie eine rot-rot-grüne Koalition ab, bemüht sich nun die Wogen zu glätten. Amira Mohamed Ali, mit Bartsch Fraktionsvorsitzende im Bundestag, ist meistens still und stumm. Die Co-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow, Fraktionsvorsitzende im thüringischen Landtag, brilliert durch eine ungebremste Vorliebe für Fettnäpfe. So werden an der Parteibasis der Linken inzwischen Stimmen laut, die ein Scheitern an der Fünfprozent-Hürde nicht als Tragödie sehen, sondern als Chance begreifen, um wieder zur linken Politik zurückzufinden.