Ein kritischer Blick auf den neuen Unesco-Sammelband und die Frage, wer in Luxemburg bestimmt, was Kultur ist

„Geschicht ass esou komplex“

d'Lëtzebuerger Land du 28.11.2025

Der neue Sammelband der Luxemburger Unesco-Kommission, Mémoires futures – Le patrimoine culturel au Luxembourg, will vieles gleichzeitig sein. Koordiniert von Nora Schleich, Philosophin und Direktorin der Erwuessebildung versammelt der Band 25 Autoren aus allen Bereichen zur Aufarbeitung und Übermittlung von Kulturerbe. Zu klären gelte, was eigentlich das spezifische Erbe einer Gesellschaft ausmache, welche Verantwortung öffentlichen Entscheidungsträgern dahingehend zukommt und wie die Auswahlkritierien festgelegt werden, wie es Kulturminister Thill in seinem Vorwort betont. Kommissionpräsidentin Simone Beck erwähnt im aktuellen Kontext den Gedächtnismord („mémoricide“) in der Ukraine oder in Gaza. Auch der Hinweis auf die von der Unesco wiederaufgebaute Bibliothek von Sarajevo soll dem Band moralische Dringlichkeit verleihen. Doch diese großen Worte stehen in einem merkwürdigen Kontrast zu vielen Beiträgen, die sich später im Klein-Klein der Luxemburger Kulturpolitik verlieren. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Pathos und Provinz, zwischen globaler Tragödie und nationaler Selbstbespiegelung.

Den Auftakt gestaltet Michel Pauly, dessen Text als didaktisch zugespitzte Einführung in den Geschichtsbegriff dienen soll. Mit einer Prise „Sendung mit der Maus“ erklärt der Mediävist (dem Kulturministerium?), dass Geschichte weder Vergangenheit noch Erinnerung sei, sondern stets ein „zusammengestelltes Konstrukt“, das nach bestem Wissen geprüft und doch bitte durch entsprechende Gesetze unterstützt werden sollte und nicht etwa durch den „Missbrauch der europäischen Datenschutzgesetzgebung“ seitens der Luxemburger Behörden oder eine „100-jährige Sperre für Dokumente, die dem Steuergeheimnis unterliegen“ behindert werden soll. An anderer Stelle beklagt Pauly eine „Bauwut“, die Archäologie marginalisiere, und philosophiert über Denkmalschutz als „Ruhefaktor in der hektischen Welt“, in der „soziale Unruhen […] selten in Altstadtvierteln ausbrechen“.

Robert Philippart führt die Leser in eine Welt, in der Verwaltung zur eigentlichen Hauptfigur wird. Das Kapitel über die „Erinnerungsorte jüngerer Konflikte“ präsentiert die Unesco als Institution, die sich selbst reguliert, studiert, berät und neu strukturiert. Kandidaturen für Erinnerungsorte habe es zuhauf gegeben. Deshalb habe das Welterbekomitee der Unesco 2018 erst mal ein Moratorium verhängt. Es folgten Informationsversammlungen, virtuelle Sitzungen, eine Arbeitsgruppe, die Wahl einer Präsidentin und ein Abschlussbericht: eine Bürokratie, die sich nahezu endlos selbst beschäftigt. Dass Philippart die 2023 eingesetzte „Arbeitsgruppe mit unbegrenzter Zusammensetzung“ als „Königsweg“ bezeichnet, ist unfreiwillig komisch.

Régis Moes hingegen liefert eine wichtige historische Einordnung der Unesco selbst: vom kolonial geprägten Anfang über die Transformation nach 1945 bis zur politischen Instrumentalisierung durch Ost und West. Sein Satz, die Unesco sei ein Beispiel dafür, wie „Bildung, Kultur und Wissenschaft von verschiedenen Akteuren benutzt“ werden, ist einer der wenigen Momente, in denen der Band in die Tiefe geht und strukturelle Machtfragen benennt.

Besonders deutlich wird die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Beitrag des Kollektivs Richtung22. Sie zeigen am Beispiel Guillaume Capus, dessen Name noch immer Straßen ziert, wie hartnäckig Luxemburg seine koloniale Vergangenheit verdrängt. Ihre Diagnose eines „Symptom[s] fortwährender Verdrängung und westlicher Selbstgerechtigkeit“ trifft einen wunden Punkt. Die nüchterne Feststellung, „Aufarbeitung geschieht höchstens im Museum, in Studien und in Büchern“, entlarvt das politische Desinteresse, das dem Thema bis heute entgegengebracht wird. Dass „das Echo ausblieb“, als die Aktivisten 2020 Straßenschilder abmontierten, spricht für sich.

Andere Beiträge wirken dagegen eher skurril, wie die Intervention des Psychiaters Paul Rauchs, der an die bedeutende Rolle des Alkohols erinnert: „l’énorme place que tiennent les représentations de la boisson“. Sein Vorschlag, die luxemburgischen Bopebistros in das immaterielle Welterbe aufzunehmen, wirkt in der Gesamtschau nicht innovativ, sondern kurios. Und verstärkt den Eindruck, dass der Sammelband kein stringentes Konzept verfolgt.

Noch fragwürdiger wird es, wenn im Band die digitale Pädagogik in Form eines „Serious Game“ gefeiert wird, das „den Dialog zwischen jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund befördern“ soll. Der eigentliche Skandal liegt jedoch in der Finanzierung: 500 000 Euro wurden für ein pädagogisches Computerspiel ausgegeben, das seit 2024 knapp über hundert Mal heruntergeladen wurde.

Stärker sind wieder die fachlichen Beiträge: Juan Aguilars Überblick über 3D-Rekonstruktionen zerstörter Kulturgüter in Mossul, Nathalie Jacobys Einblick in die Herausforderungen digitaler Nachlässe beim CNL, Bettina Steinbrügges Darstellung der Ankaufspolitik des Mudams oder Antoinette Reuters Panorama über das Industrieerbe – angesichts der geplanten Zerstörung zwiwer Kamine in Belval aktueller denn je.

Besonders deutlich zeigt sich die redaktionelle Schwäche des Bandes in dem langwierigen Gespräch über Sammeln und Ausstellen zwischen Guy Thewes, Direktor der Stater Museen und dem Leiter des Musée de la Résistance in Esch, Frank Schroeder. Zwar fällt der bemerkenswerte Satz „Alles haut ass mat Valeuren verbonnen“, doch bleibt das Gespräch merkwürdig unpräzise. Thewes betont: „Et muss opgepasst ginn, datt net just eng Meenung presentéiert gëtt, mee villfälteg Erzielungen.“ Aber auf die naheliegende Frage „Wéi gëtt dann décidéiert, wéi e Récit haut ausschlaggebend ass?“ folgt von Schroeder nur die trocken selbstgewisse Antwort: „Dat décidéiere mir selwer, dat ass eis Aarbecht.“ Genau hier wäre eine kritische Einordnung nötig gewesen. Stattdessen gleitet das Gespräch weiter, ohne akademische Streitfragen oder theoretische Positionierungen zu berühren.

Auch die Aussagen zur Vermittlung wirken eher wie pädagogische Allgemeinplätze. Schroeder stellt fest: „D’Geschicht ass esou komplex“, und fragt sich, ob es darum gehe, „Wësse vermëttelen? Oder eppes bei de Leit am Kapp zum Dréine bréngen?“ Thewes wiederum erklärt, „Mir benotzen dat Digitaalt als hybrid Form. Et ass eng Hëllef.“

Besonders problematisch erscheint die Passage, in der Schroeder auf Bildungsunterschiede eingeht. Seine Aussage, „Kultur ass, global gesinn, eppes wat elitär ass. Fir Leit, di keng Bildung hunn, ass et extrem schwéier, Kultur ze consomméiren – ausser mir passen eis Offer un!“, ist zugleich ehrlich und ernüchternd. Die gut gemeinte Anmerkung, „sozial schwaach gestallte Leit kënne gratis an de Musée kommen“, wirkt wie ein struktureller Tropfen auf den heißen Stein, zumal das übergeordnete Problem sozialer Zugangshürden damit keineswegs behoben ist. Dass man „Open-Air-Ausstellungen op der Brillplaz“ organisiert und „en Deel op Portugisesch“ darbietet, lässt tief ins Selbstverständnis luxemburger Museumsdirektoren blicken.

Der Text über das Engagement einer Athenée-Klasse für den Kleeschen zeigt vor allem, wie leicht Tradition zu Aktivismus verklärt werden kann, und das Interview mit Lotty Collet über die Oktav wirkt wie ein spätes Echo auf Debatten, die Luxemburg längst hinter sich glaubte.

Noch irritierender wird der Sammelband dort, wo Norbert Campagna seine Vorstellung eines „ethischen Erbes“ entfaltet. Sein Text beginnt mit der Hoffnung, „il faut néanmoins espérer que certaines valeurs ou certains principes que nous avons hérités du christianisme soient préservés“, und driftet von dort aus in eine Argumentation, die kaum noch zwischen Kulturkritik und kulturpessimistischer Warnrhetorik unterscheidet. Unter dem Stichwort Cancel Culture entwickelt Campagna die These, „Qu’on le veuille ou non, l’accueil ou non dans nos sociétés d’un grand nombre d’immigrés ayant un arrière-fond culturel et éthique différent du nôtre peut poser un problème pour notre patrimoine éthique (…).“ Das ist in seiner pauschalen Formulierung erstaunlich ungebrochen und wird im Band völlig unkommentiert stehen gelassen. Auch seine Versicherung, „Le fait que j’ose mentionner les risques que l’arrivée massive d’immigrés peut poser pour notre culture éthique ne signifie pas que je sois xénophobe ou raciste“, wirkt wie eine Absicherung, die selbst ahnt, wie steil die Behauptungen davor waren. Schließlich kulminiert seine Argumentation in der Formulierung: „Et s’il faut avoir peur d’un grand remplacement, c’est du remplacement d’une culture éthique (…)“, gefolgt von der wenig beruhigenden Feststellung: „Le danger ne provient pas seulement de l’extérieur, mais est aussi endémique.“

Dass ein Unesco-naher Sammelband solchen Formulierungen nicht nur Raum gibt, sondern sie ohne jede kritische Rahmung abdruckt, ist vielleicht das deutlichste Symptom seines redaktionellen Problems. Besonders auffällig ist, dass Campagna in seinem Text explizit die Arbeit der Woxx-Journalistin Tessie Jakobs oder die Debatte um rassistische Inhalte in der Literatur angreift. Es ist bedauerlich, dass Diskussionen über Kulturerbe in Luxemburg häufig von eher konservativen Vorstellungen geprägt werden. Es geht dabei nicht um die Zurückweisung solcher Positionen, sondern um die Frage, ob der Sammelband der Vielfalt notwendiger Gegenstimmen gerecht wird.

Frédéric Braun
© 2025 d’Lëtzebuerger Land