Manderscheid, Roger: Opakalypse

Spüren, dass man lebt

d'Lëtzebuerger Land du 18.12.2008

Im Alter bekommen manche Männer schütteres Haar und werden weise. Manche bekommen aber auch einfach nur schütteres Haar und machen weiter wie bisher. Ein Glück! Wem Roger Manderscheids kleines grünes „Pockolibri“ mit dem anschaulichen Titel Opakalypse in die Hände flattert, wird alsbald wissen: Beim Autor piepst es ein bisschen, aber er ist sich treu geblieben.

Der Band umfasst drei Hörspiele, die alle um das gleiche Thema kreisen: das Alter, in dem manches nicht mehr so gut klappt, in dem das Ich sogar manchmal völlig unerwartet und unaufgefordert zusammenklappt und sich nur mühsam wieder aufrichten lässt. Im Kern ist dieses Buch: ein Anschreiben gegen körperliche und geis­tige Auflösungserscheinungen, gegen den Verlust von Erinnerung und Hörvermögen gleichermaßen, gegen das drohende Auseinanderfallen der In­tegrität der eigenen Person

.„Schattenboxen“, der erste Text des Bandes, beginnt buchstäblich im Nichts. Es ist dunkel, der Boden ist eben, es riecht nicht, es ist still. Der Sprecher weiß nicht, wo er ist, wer er ist oder was ihn an diesen Ort, der kein Ort ist, gebracht hat. Seine Iden­tität ist so unbeschrieben wie ein Blankoscheck. Ein „winziges weißes pünktchen“ in weiter Ferne muss ihm als Anhaltspunkt genügen. Sich nicht einfach auf den Hosenboden setzen und verzweifeln. Weitergehen, wach­sam sein. Als eine Stimme aus dem Fast-nichts erklingt, ist noch nichts gewonnen, auch wenn sich die Anzeichen dafür mehren, dass man sich unter dem Ort womöglich einen Intercity nach Antwerpen vorzustellen hat. Der Andere fordert ihn heraus, provoziert ihn, beleidigt und demütigt ihn. In der Auseinandersetzung mit seinem unsichtbaren, aber unvermeidlichen Gegenüber muss sich der Sprecher behaupten, indem er den Anschuldigungen und verbalen Remplern standhält und sich in seinen Repliken immer wieder selbst erfindet.

Schafherden in Australien, Revolutionen, Exilrussinnen, Wochenendhäuschen im Ösling und eine Tante in Acapulco – die Ressourcen für Versuche, sich gegenseitig zu übertrumpfen scheinen unerschöpflich. Während die beiden Streithähne verbissen darauf zusteuern, sich gegenseitig aus dem hemmungslos gesponnenen Seemannsgarn einen Strick zu drehen, zeigt sich Stück für Stück, was eigentlich bleibt, wenn man Namen und Lebenslauf von diesem Sprecher und seinem Schattenmann ab­zieht: ein Hang zu Streitsucht und Rechthaberei, ein nicht zu unterschätzendes Geltungsbedürfnis, ein unberechenbares Temperament und eine ausgeprägte Libido. 

Dazu: eine überbordende Lust am Fabulieren und der Zwang, jedes Wort mindestens zweimal umzudrehen, bevor es über die Lippen kommt. Man merke: „wer küsse misst, darf keine messer küssen.“Auch das zweite Hörspiel, „Die Nackten und die Süßen“, zelebriert den absurd-abstrusen Schlagabtausch. Ana­tol Alabaster und Blacky Blume (für: „a“ und „b“) sind zwei neurotische Alte, die im Wartesaal auf ihren Psychotherapeuten Dr. Elminger warten, vermutlich ein entfernter Verwandter von Godot. Alabaster hat den ärgerlichen Tick, alle Menschen nackt sehen zu müssen (kopulierend, igitt); Blume wird von der nachweislich nicht weniger unzumutbaren Vorstellung geplagt, die ganze Welt sei mit Schokolade überzogen (was allerhand Klein­vieh mit sich bringt, vom Gestank ganz zu schweigen). Alabaster bekämpft hartnäckig, aber nicht immer erfolgreich, Blumes legasthenische Anflüge („b: ich fürchte die kolomotiven/ a: das heisst molokotiven, für richtig/ b: doktor molokotiv, ich fürchte die kilomotoven“), bevor ihm schließlich die rettende Heilmethode einfällt: Wo Dr. Elminger sowieso keine Ahnung hat und es nicht einmal für nötig befindet, in seiner Praxis aufzukreuzen, ist Selbsthilfe angesagt.

Das Meisterstück aus Opakalypse ist jedoch zweifellos der gleichnamige Monolog am Ende des Bandes. Hier sitzt ein alter Mann auf einem Stuhl, der auf einem Tisch steht. Dieser Mann spricht, wie die Regieanweisung angibt, vor allem, „um das gefühl zu spüren, dass er lebt“. Was in den anderen beiden Hörspielen oft noch spielerisch anklingt, erhält in diesem Stück einen bitteren Nachgeschmack: Das Alter ist kein Klamauk zur Belustigung der Volksmassen, sondern eine harte Wirklichkeit, die sich zum Teil nur mit Hilfe von Pillen erträglich gestalten lässt, ganz gleich ob man jetzt „madekimente“ oder „medikimante“ zu ihnen sagt. Aus Wortspiel wird hier schiere und unverblümte Schreibwut: lex mihi ars – zum Verständnis dieser Verwünschung muss man nicht einmal im Küchenlatein besonders versiert sein. 

Weit deutlicher als die anderen Hörspiele, enthält die „Opakalypse“ auch etliche direkte und indirekte Anspielungen auf frühere Werke Manderscheids: die Glatze, die er dem Protagonisten seiner Roman-Trilogie angedichtet hatte, die leicht verdrehten Selbstbetitelungen, etwa als „stil-listiger poeta cactus“. 

Am Ende wirft der Sprecher seine Krücken weg und versucht, allein aus eigener Kraft zu gehen. Man sieht ihm die Anstrengung an. Aber er geht. 

Roger Manderscheid: Opakalypse. Pockolibri 6, Éditions Ultimomondo 2008; 15 Euro; www.umo.lu

Elisabeth Schmit
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