Zwölf Seiten umfasste der Bericht, mit dem die fünfköpfige Expertengruppe im Januar der Regierung die Einführung einer Covid-Impfpflicht für alle über 50-Jährigen und für alle im Gesundheits- und Pflegewesen Tätigen empfahl. Das „Update“, das sie am Dienstag vorstellte, ist sechs Mal so lang.
Das allein ist schon merkwürdig. Es wäre zu verstehen, wenn sich in den sechs Monaten seither die Bedingungen für oder gegen eine Impfpflicht derart geändert hätten, dass eine ganz neue und viel ausführlichere Studie nötig geworden wäre. Davon kann aber keine Rede sein. Denn obwohl um den Jahreswechsel in Europa die Delta-Variante des Coronavirus noch vorherrschte und der erste Omikron-Subtyp (später BA.1 genannt) im Dezember in Südafrika entdeckt wurde, sind drei Feststellungen heute ebenso gültig wie im Januar.
Erstens, tragen über 50-Jährige ein erhöhtes Risiko, schwerer an Covid-19 zu erkranken. 98 Prozent der seit Beginn der Pandemie daran in Luxemburg Verstorbenen waren über 50. Von den an Omikron-Covid Verstorbenen waren es alle. Zweitens: Obwohl sämtliche aktuellen Impfstoffe auf den „Wuhan-Typ“ von Sars-CoV-2 zurückgehen, der schon lange keine Rolle mehr spielt, schützen sie noch immer auf bemerkenswerte Weise vor schweren Covid-Verläufen, die eine Krankenhauseinweisung nötig machen. Drittens: Gegen eine Infektion schützen sie von Virusvariante zu Virusvariante immer schlechter. Aber: Infektion heißt nicht Erkrankung.
Dass dem so ist und was daraus folgt, hätte auch auf sieben Seiten niedergeschrieben werden können statt auf 72. Nämlich, dass eine Impfpflicht für die über 50-Jährigen sinnvoll ist, um das Gesundheitssystem zu schützen. 30 000 über 50-Jährige sind gänzlich ungeimpft. 20 000 haben lediglich zwei Dosen erhalten. Gegen „Delta“ boten drei Dosen einen über neunzigprozentigen Schutz gegen Hospitalisierung, Einweisung auf eine Intensivstation und Tod. Gegenüber dem ersten Omikron-Subtyp BA.1 lag dieser Schutz ebenfalls bei über 90 Prozent. Dass er auch gegen weitere Varianten nennenswert wäre, ist anzunehmen.
Doch seltsamerweise differenziert und nuanciert der Bericht und versteckt wichtige Aussagen derart, dass er angreifbar wird. Zum Beispiel suggeriert eine Simulation der Uni Luxemburg, nur gegen eine Variante, die krank macht wie „Delta“, brächte die Impfpflicht genug. An anderer Stelle heißt es, wären die wegen „Omikron“ Hospitalisierten über 50, die ungeimpft waren, geimpft gewesen, hätten über 15 Wochen hinweg 154 Hospitalisierungen, davon 15 auf einer Intensivstation, sowie 23 Todesfälle vermieden werden können. Warum soll das zu wenig sein?
Auf der Pressekonferenz am Dienstag war die Nachfrage eines Journalisten vonnöten, um den Experten zu entlocken, ob sie überhaupt etwas empfehlen. Zur sektoriellen Impfpflicht ist der Bericht nicht klarer. Auf den ersten Blick scheint er von ihr abzuraten. Denn sich infizieren und das Virus übertragen können auch Geimpfte relativ bald nach der letzten Dosis, sodass ein cordon sanitaire um Patient/innen im Spital und Insassen von Altenheimen unrealistisch wäre mit den derzeitigen Vakzinen. Viel weniger fällt auf, dass die Experten die sektorielle Impfpflicht für angebracht halten, falls ein Impfstoff zu 50 Prozent vor Infektion und Übertragung schützt. Da derzeit die Arzneimittelbehörden der EU und der USA an Omikron-BA.1 angepasste Vakzine prüfen, sind mehr als die 50 Prozent womöglich erreichbar.
Gut, dass die zunächst für heute angesetzte Regierungserklärung mit anschließender Debatte auf kommende Woche verlegt wurde. So bleibt Zeit, im Regierungsrat und in parlamentarischen Ausschüssen mit den Experten zu diskutieren, was sie tatsächlich empfehlen. Der Bericht liest sich bisweilen wie eine Synthese zweier oder dreier Expertisen. Zynisch interpretiert, bietet er, so zweideutig, wie er redigiert wurde, Raum, um die Impfpflicht ad acta zu legen. Was am Ende vielleicht geschieht, weil es schon spät ist: Würde nächste Woche ein Impfpflicht-Gesetzentwurf eingereicht, würde seine politische Diskussion mit dem heraufziehenden Wahlkampf vermengt. So richtig freuen könnte das allein die ADR.