Land: Sie erwähnten in einem Gespräch über ihr Buch In die andere Richtung jetzt, dass Sie die Auswirkungen des Klimawandels in Madagaskar ganz konkret beobachten konnten und dass in Europa zugleich wenig darüber berichtet wurde. Sie schreiben außerdem über den erschwerten Zugang zu Nahrungsmitteln, den man in Ostafrika beobachten konnte. In welchen Formen ist Ihnen das Thema Klimawandel und Hunger dort immer wieder begegnet?
Navid Kermani: Ganz Ostafrika ist eine Region, die sehr direkt und hart vom Klimawandel betroffen ist. Im Süden Madagaskars sind die Auswirkungen extrem – in einem eigentlich fruchtbaren Gebiet. Als ich eintraf, zählte man sieben Jahre Dürre hintereinander: Sieben Mal war die Ernte ausgefallen, weil der Regen ausgeblieben war oder weil, wenn Regen kam, der so plötzlich in so unerwarteten Zeiten und so heftig fiel, dass der in den harten Boden einfach nicht eindringen konnte. Die Menschen waren physisch vollkommen ausgezehrt; Menschen, die nichts anderes als den Boden haben, von dem sie leben. Sie haben kein Geld, um den Ernteausfall durch den Zukauf von Lebensmitteln auszugleichen. Dort gibt es nicht einmal gut befahrbare Wege, Verkehrssysteme, um den Transport von Handelswaren günstig zu organisieren. Das waren geradezu apokalyptische Zustände. Aber in ganz Ostafrika sind die Folgen des Klimawandels zu erleben. Was hier als Zukunftsszenario beschrieben wird, ist dort schon Realität.
Und die Zusammenhänge waren nicht unbedingt ein Thema vor Ort. Sie beschreiben Begegnungen mit Menschen, die das Wort „Klimawandel“ noch nie gehört haben.
Ja, der Süden Madagaskars ist eine sehr abgelegene Region, ohne asphaltierte Straßen, fast ohne Strom. Und diese Menschen, das sind sehr einfache Bauern, ohne Schulbildung, ohne Smartphone; diese Menschen sind zwar vom Klimawandel betroffen, aber sie haben noch nie vom Klimawandel gehört. Man selbst, als westlicher Reisender, als Berichterstatter, aus einem Land, das mit am meisten Emissionen produziert, steht da vor einem Menschen, in einem Land, das so gut wie keine Emissionen produziert. Und es ist die eigene Lebensweise, der eigene Wohlstand, die eigene Form, mit der Natur umzugehen, die dort zu einer Katastrophe geführt haben.
Wenn man Hunger hat, hat man auch andere Prioritäten als sich über den Klimawandel Gedanken zu machen…
In Gebieten, in denen große Armut herrscht und der Mensch Hunger hat, wird der Hunger vorherrschend. Man liest den Hunger aus den Gesichtszügen – Hunger beherrscht das Denken. Die Gedanken sind gebannt, gefesselt: Man ist darauf konzentriert, wie man sich selbst, wie man die eigenen Kinder satt bekommt. Auch die Kultur verschwindet, wird ausgelöscht. Süd-Madagaskar ist zwar eine arme, aber kulturell reiche Region. Diese Menschen haben Traditionen, sie haben Lieder, berühmte Musiker, die weltweit auf Festivals auftreten. Wunderbare Musik. Aber wenn Hunger herrscht, dann ist kein Geld da, um Musiker zu bezahlen. Und die Lust an Musik vergeht; es gibt keinen Raum mehr für Kultur – also für etwas, das außerhalb des Nützlichkeitsdenkens fällt. Aber die nicht nützlichen Dinge sind es, die das menschliche Leben schön machen. Doch wenn man hungrig wach wird und hungrig einschläft, dann – vielleicht muss man es wirklich so sagen – nimmt es einem Menschen die Würde, die ja daraus besteht, dass man seine Zeit nicht einer bestimmten Sache unterwirft, sondern selbstbestimmt ist. Und sobald ich in die Nähe des Meeres kam, wo es Fisch gibt und ein Grundminimum an Essen vorhanden ist, beginnt auch wieder das Spiel, die Kunst, die Musik – all das, was das Leben ja eigentlich ausmacht.
Sie haben sich auch damit befasst, wie entlang von Kapitalfragen und rivalisierenden Eliten, auch zwischen ethnischen Gruppen, Konflikte entstehen.
Es entstehen je nach Gebiet unterschiedliche Verflechtungen. In Äthiopien etwa drehte sich der Krieg in Tigray um eine Elite, die über Jahre das Land dominiert hatte. Über 20 Jahre stellte sie die Regierungspartei in Addis Abeba. Andere Ethnien nahmen eine Bevorzugung der Tigray wahr, und als ihre Vorherrschaft beendet war und der jetzige Ministerpräsident, der einer anderen Ethnie angehört, die Macht übernahm, kam es zu Konflikten: Die einen fürchteten, ihre Privilegien, ihr Geld und ihre Dominanz zu verlieren, und die anderen wollten selbst an die Töpfe heran. Insofern kann man den ökonomischen und machtpolitischen Aspekt gar nicht ausklammern. Aber er hat sich sozusagen entlang der Sprachgrenzen und entlang der Ethnien herausgebildet. Ähnlich ist es in Mosambik. Durch die riesigen Gasvorkommen, die entdeckt wurden, ist ebenfalls ein Krieg ausgebrochen. Die Investitionen, die Ingenieure aus aller Welt, die Arbeiter, die Geschäfte und Unternehmen, sie sind wie eine Sturzflut in diese sehr arme Gesellschaft ganz im Norden Mosambiks eingedrungen. Es entstand ein chaotischer Wettbewerb darum, wer am ehesten und am meisten aus den Geldquellen schöpfen kann – und gerade viele Einheimische fühlen sich zurückgesetzt. Wenn dann noch dschihadistische Prediger aus dem Ausland agitieren…
Ist ein institutionell stabileres Land wie Kenia weniger stark von diesen Dynamiken betroffen?
Auch in einem Land wie Kenia ist zu beobachten, dass sich Konflikte oft entlang der ethnischen und sprachlichen Grenzen herausgebildet haben. Die hat es vorher auch schon gegeben, nur vorher hat es diese riesigen Einkommensunterschiede nicht in dem Ausmaß gegeben, wie es im Zeitalter der Industrialisierung, der Globalisierung, der Verflechtung des Finanzkapitals und der Ausbeutung der Bodenschätze entstanden sind. Diese gewaltige ökonomische Ungleichheit in Verbindung mit ethnischen Differenzen ist nicht nur in ostafrikanischen Ländern sehr konfliktträchtig.
Sie haben bereits angedeutet, dass dschihadistische Prediger aus dem Ausland Unruhe in Mosambik stiften. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie auf Mayotte viele Sufis sich vom wahhabitischen Islam bedroht fühlen. Ist das eine globale Tendenz? Man hört aus allen Weltgegenden ähnliche Klagen.
Ja, absolut. Das ist ein Phänomen, das Ende des 19. Jahrhunderts begann. Wir sehen, dass überall in der islamischen Welt die Volksfrömmigkeit, der traditionelle Islam, der eine sufistische Ausrichtung hat und in dem Musik, die Poesie, der Tanz und lokale Geschichten viel Raum einnehmen, zurückgedrängt wird. Der Sufismus ist in dem Sinne keine Randerscheinung, sondern stark verbreitet. Er ermöglicht das Zusammenleben mit anderen Religionen, weil der Sufismus die inneren Werte hervorhebt und keine Religion des Buchstaben-Fundamentalismus ist. Und er wirkt innerhalb muslimischer Gemeinschaften integrativ, da er Menschen vom Rand der Gesellschaft aufnimmt. Ende des 19. Jahrhunderts und über das 20. Jahrhundert hinweg verbreitete sich ausgerechnet die radikalste Spielart des Islam, der Wahhabismus, derjenige mit dem meisten Geld – denn das Öl wurde ausgerechnet genau dort entdeckt, wo eine bis dahin eigentlich eher unbedeutende, radikale Sekte herrschte. Das hat Auswirkungen auf die gesamte islamische Welt: auf dem Balkan, in Indonesien, aber eben auch in Ostafrika. Am dramatischsten ist die Situation in Pakistan, wo häufig Attentate gegen Mystiker stattfinden. Aber auch im Iran, wo der schiitische Fundamentalismus Sufis verfolgt und Derwische, also mystische Führer, in Gefängnissen festhält.
Obwohl es ein globales Phänomen ist – gibt es ein bestimmtes religionssoziologisches Profil, das in Europa besonders empfänglich für radikale Parolen ist?
Der wahhabitische Islam hat in Europa gerade unter der Generation Einfluss, die den Kontakt zu einem traditionellen Islam verloren hat. Sie kennen den Islam nur aus dem Internet oder aus Schriften und haben einen kontextgebundenen, gelebten Islam nicht mehr erlebt. Dort verfangen radikale Formen des Islam. Und das, was wir hier Salafismus oder Dschihadismus nennen, hat seine Wurzeln im wahhabitischen Denken. Vielleicht erinnern sich die Leser noch an die Schulbücher, die der IS im islamischen Staat in Mosul und anderen Städten des Iraks verteilt hat. Die Schulbücher hatten sie eins zu eins aus Saudi-Arabien übernommen. Die Lehren sind die gleichen, nur die politische Deutung der Dschihadisten ist eine andere. Es entstehen unterschiedliche Transfers.
Wie kann man dem radikalen Islam entgegenwirken?
Wer sind die westlichen Bündnispartner im Nahen Osten? Das sind die Golfstaaten, Saudi-Arabien, Katar, die Emirate. Das sind diejenigen, die in der Region westliche Interessen vertreten und von denen wir aufgrund der Energiesicherheit abhängig sind. Seit dem Ukraine-Krieg noch mehr als zuvor. Das sind ungute Allianzen, die infrage stellen, ob der Westen er ernst meint mit der Verteidigung der Menschenrechte. Auch in Syrien wurden und werden die Islamisten als westliche Alliierte wahrgenommen. Vielleicht wollen wir uns nicht wirklich bewusst machen, dass genau jene Kräfte, die hier Terroranschläge verüben und gegen unschuldige Zivilisten vorgehen – dass dieses Denken von Gruppierungen gefördert wird, mit denen wir sehr eng zusammenarbeiten. Solange das nicht angegangen wird, bleibt letztendlich der Kampf gegen den Islamismus heuchlerisch.
Rezent wurde eine Studie publiziert, die besagt, dass in deutschen Medien 85 Prozent der Weltbevölkerung in nur elf Prozent der Berichterstattung vorkommen. Warum gibt es dieses Missverhältnis – insbesondere mit Blick auf den afrikanischen Kontinent?
Wenn man die Statistik nur in Bezug auf Länder des globalen Südens erheben würde, würde sie noch dramatischer ausfallen. Denn bei der Statistik, die Sie erwähnen, ist etwa auch China einberechnet. Das heißt, die Länder des globalen Südens kommen einfach so gut wie nie in der Berichterstattung vor. Und das war nicht immer so. Vor 20, 30 Jahren war das anders. Es scheint, je enger die globalen Verflechtungen werden, desto provinzieller wird unser Denken. Woran liegt das?
Ein Kollege von mir meinte, dass man über den Gaza-Krieg mehr berichten würde, weil hier die geopolitische Einflusssphäre klarer sei als beispielsweise im Hinblick auf einen Krieg im Sudan oder Äthiopien. Aber sollen einzig geopolitische Einflusssphären die Prioritäten der Berichterstattung bestimmen?
Und es war ja mal anders. Die Hungerkatastrophen in den 70er- und 80er-Jahren in Äthiopien wurden von den Medien als Weltereignisse behandelt. Es gab Sondersendungen im Fernsehen, es gab Spenden-Galas, es gab Dokumentationen, es gab Europäer, die hingereist sind und berichtet haben. Die Kulturindustrie, die Popkultur und Prominente haben Initiativen gegen den Hunger unterstützt. Jetzt haben wir vergleichbare Bilder in Madagaskar, und niemand schaut hin. Das ist ja das Paradox: Obwohl die Hungerkatastrophe dort viel enger mit unserer Lebensweise zu tun hat als etwa die Hungerkatastrophe 1984/85 in Äthiopien. Aber vielleicht ist das der Grund, warum wir weniger hinschauen: In Madagaskar sind die Folgen des Klimawandels manifest – der Blick nach Ostafrika wäre ein Blick in den Spiegel. Aber diese Live-Aid-Bewegung und Spenden-Broschüren hatten immer auch etwas Paternalistisches: Man war sozusagen der Gute, der sich um die Armen kümmert. Diese Perspektive funktioniert bei den jetzigen Dürren nicht mehr, weil man unmittelbarer mit der Katastrophe verstrickt ist.