Mit seinen 1,92 Meter, die er aufrecht und zielstrebig bewegt, ist Moa Nunes zu allererst eine imposante Erscheinung, ein beeindruckender Riesentyp, der den Raum beansprucht. Damit passt er nicht so recht ins Bild vom Ballettlehrer, die in der Regel weiblich, eher klein und zierlich sind. Er lacht voller Selbstironie. Er sei jetzt 49 Jahre alt, mit dem Alter werde man kleiner, vielleicht sei er mittlerweile nicht mehr ganz so groß. Dass er als professioneller Tänzer vor allem modern, zeitgenössisch und Jazz getanzt hat, statt klassisches Ballett, ist ebenfalls seiner Statur geschuldet. „Ich war zu groß. In einem Ballettensemble müssen alle Tänzer ein uniformes Bild abgeben. Da kann nicht einer die anderen um einen Kopf überragen“, sagt Nunes, zieht dabei mit den Händen eine Linie, streckt den Kopf drüber, um zu verdeutlichen, was er meint. Wenn er redet, redet der ganze Körper mit, Gesichtszüge inklusive.
Das Tanzen begann der Brasilianer Moa Nunes mit elf. In einer Schulaufführung zu Muttertag, erzählt er, hatte er eine kleine Rolle. Daraufhin ermutigten die Lehrer seine Mutter, ihn zum Tanzunterricht zu schicken. Sie setzte das durch, erst einmal gegen den Willen seines Vaters, der glaubte, er gehe zweimal die Woche zum Schreibmaschinenunterricht. Denn obwohl in den Augen von Europäern die Männer in Lateinamerika vergleichsweise viel tanzen, sei es vor fast 40 Jahren im chauvinistischen Brasilien völlig unakzeptabel gewesen, einen Jungen zur Ballettausbildung zu schicken. Sogar im südbrasilianischen Joinville, einem bedeutenden Tanzzentrum, auch auf internationaler Ebene, und der einzige Ort, an dem die Bolschoi-Ballett-Akademie 2000 eine Filiale außerhalb Moskaus eröffnete. Da hatte Moa Nunes seine Ausbildung bereits abgeschlossen und tanzte seit Jahren als erster Solist der Comdanca Tanzkompagnie. Seiner Auszeichnung 1996 als bester Tänzer des Bundesstaates Santa Caterina verleihen diese Umstände umso mehr Bedeutung. Auf die Auszeichnung folgte eine Einladung nach Rom. Auf dem Weg nach Europa machte er in Lissabon Halt und in Luxemburg, wo Manoel Batista, ein guter Freund aus Brasilien, bereits als Aerobic-Trainer arbeitete. Er blieb hier, gab Unterricht an verschiedenen Tanzschulen, bevor er 2002 aus privaten Gründen nach Brüssel zog. Auch dort unterrichtete er, pendelte zwischen der belgischen Hauptstadt und Luxemburg hin und her, wo er weiterhin Kurse an der Tanzschule Jazzex gab. 2009 kehrte er aus privaten Gründen ganz nach Luxemburg zurück. Nunes mag es hier. „Die Stadt ist kleiner“, sagt er, dessen Heimatstadt so viele Einwohner hat, wie ganz Luxemburg.
Samstagsmorgens, wenn Nunes’ Ballettschüler die Knie zum ersten Plié beugen, gibt das kollektive Knacken der Gelenke den Auftakt zu einer Stunde und 15 Minuten Schweißarbeit. Nunes zeigt die Übung, klatscht in die Hände, ruft „Travaillez!“ und die Klaviermusik beginnt. 20 Rücken strecken sich, 20 Bäuche werden eingezogen, 20 Hintern zusammengekniffen, die Arme öffnen sich zum Port de bras, die Hände legen sich auf die Stangen – los geht’s. Das Durchschnittsalter im Saal beträgt zwischen Ende 30 und Mitte 40, manche liegen weit darunter, manche weit darüber. Das Niveau ist ebenfalls gemischt, reicht von jenen, die als Kinder oder Jugendliche mal getanzt haben und dann jahr(zehnte)lang nicht, bis zu Tänzerinnen, die jede Bewegung mit einer derartigen Präzision ausführen, dass sie offensichtlich ihren Abschluss am Konservatorium in der Tasche haben. In Nunes’ Tanzkursen, sei es klassisch, modern, Jazz oder afrobrasilianisch, hat sich eine treue Gefolgschaft gebildet, die teils seit Jahrzehnten bei ihm tanzt.
Es sei auf keinen Fall so, dass er nicht gerne Kinder unterrichte, unterstreicht der Tanzlehrer und Choreograf. Aber Erwachsenen Unterricht zu geben, ist für ihn eine besondere Herausforderung. Nunes hat selbst mehrere Operationen hinter sich – die Jahre, in denen er täglich bei den Proben und den Aufführungen seine Partnerinnen hochgehoben hat, sind an seinem Körper nicht spurlos vorbeigegangen. Deshalb legt er besonderen Wert auf das Aufwärmen – dabei summt und singt er gerne zur Musik mit – und darauf, seinen Unterricht anzupassen. „Ich muss den Unterricht so aufbauen, dass jeder mitmachen kann. Man muss seinen Körper kennenlernen und wissen, wo die Grenzen sind, bevor man sich verletzt.“ Mit dieser integrativen Herangehensweise schafft Nunes einen Rahmen, in dem auch blutige Anfänger ihre ersten Tanzschritte wagen, ohne das Gefühl zu haben, sie seien dafür zu alt, zu rund oder zu unflexibel.
Was ihm am Unterrichten besonders gefällt? „Die Begegnung mit den Menschen. Sie geben mir so viel Energie“, versucht er zu erklären. „Schüler, die denken, sie können niemals ein Développé machen – wenn ich dann sehe, wie sie es schließlich ausführen, macht mich das gutgelaunt, sogar wenn ich vor der Stunde nicht so gut drauf war.“ Sein Enthusiasmus für ein bis in die Zehenspitzen gestrecktes Bein oder eine andere Bewegung bei der alles stimmt, macht sich im Unterricht manchmal durch ein lautstarkes „Yes!“ bemerkbar, wie man es vielleicht eher von einem Sportscoach am Spielfeldrand erwartet als von einem Ballettlehrer. Aber für die Schüler ist das eine besondere Anerkennung und der Moment, in dem tatsächlich jeder eine Ballerina oder ein Ballerino sein kann. So überträgt sich die Energie zurück auf die Schüler, die nach einem ausführlichen und überschwänglichen Dankeschön an das nicht vorhandene Publikum glücklich und mit Muskelkater aus dem Saal schweben. Oder nach dem Jazzunterricht mit einer Melodie im Ohr, schwingenden Hüften und einem anderen Körpergefühl davonwippen.
Auch als Choreograf verfolgt Nunes einen anderen Ansatz, funktioniert völlig ohne Zuschüsse abseits vom Luxemburger Kulturbetrieb. Für seine Projekte bringt er gerne professionelle und nicht-professionelle Tänzer zusammen und gibt letzteren damit eine Möglichkeit, vor Publikum auf der Bühne zu stehen. An seiner neuen Show Encontros nehmen drei professionelle Tänzer aus Brasilien teil und einige seiner Schüler, die ihren Unterhalt in anderen Berufen verdienen. Nunes lobt ihr technisches Können, ist sichtlich stolz. Encontros handelt von Begegnungen mit Menschen die einen berühren, beziehungsweise deren Seele man schon zu kennen glaubt, bevor man sie überhaupt zum ersten Mal trifft.