Niemand kam dem LSAP-Ideal des „schwedischen Modells“ näher als der katholisch-konservative Jean

Der letzte Großherzog, der einmal heilig war

Mit Großherzogin Charlotte
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d'Lëtzebuerger Land du 26.04.2019

Am 16. Dezember 1997 hatte das Parlament mit 58 Stimmen von CSV, LSAP, DP, ADR und Grünen bei Enthaltung der beiden Abgeordneten François Bausch und Camille Gira beschlossen, dass der damals amtierende Großherzog Jean nicht mehr heilig sei.

In der Revolution von 1848 hatten sich die Luxemburger eine liberale Verfassung erkämpft, die in Artikel vier die Person des König-Großherzogs „unverletzlich“, das heißt rechtlich nicht haftbar, nannte. Doch nach seinem Putsch 1856 diktierte König-Großherzog Wilhelm III. in Artikel vier: „Die Person des König-Großherzogs ist heilig und unverletzlich.“ Seine und die Heiligkeit aller ihm folgenden Großherzöge überdauerten zwei Weltkriege, die Ausrufung der Republik, die Entkolonisierung, die Mondlandung, das Ende des Kalten Kriegs, die Erfindung des Internets und alle Verfassungsrevisionen bis zur Schwelle des neuen Jahrtausends. Folglich waren laut Grundgesetz die Großherzöge Wilhelm III., Adolph, Wilhelm IV., Marie-Adelheid, Charlotte und Jean nicht nur unverletzlich, sondern heilig.

Dann hatte auch der CSV-Staat es für nötig befunden, vom geschäftsschädigenden Bild einer rückständigen Operettenmonarchie abzurücken und sich als fortschrittliche, weltoffene und demokratische Industriegesellschaft darzustellen. Zu diesem Zweck eröffnete der CSV-Abgeordnete Georges Margue im Motivenbericht zur Revision von Verfassungsartikel vier, dass die Heiligkeit des Großherzogs im Grunde unsinnig sei, weil der Monarch bei seinem Amtsantritt weder gesalbt werde noch irgendwelche religiöse oder zivile Vorrechte aus seiner Heiligkeit ziehen könne.

Es ist nicht bekannt, dass trotz der bis heute anhaltend engen Verknüpfung von Thron, Altar und Schwert der damals amtierende Großherzog irgendwelchen Widerstand gegen die Aberkennung seiner Heiligkeit geleistet hätte. Der letzte heilige Großherzog, der in der Nacht zum Dienstag mit stolzen 98 Jahren starb, wusste, dass das Erbamt an der Spitze des Staates ein Fremdkörper inmitten aller gewählten politischen Ämter war. Er hatte wohl verstanden, dass es nur fortbestehen konnte, wenn es immer ziviler, säkularer und republikanischer würde, auch auf die unvermeidliche Gefahr hin, dass es sich dadurch einmal in der parlamentarischen Demokratie auflösen wird wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser.

Also spielte Großherzog Jean auf Zeit, bestätigte und verkündigte die entsprechende Verfassungsrevision pflichtbewusst am 12. Januar 1998 auf Schloss Berg. Zwei Monate später ernannte er seinen Sohn Henri zum Leutnant-Stellvertreter. Als dieser sich später weigern sollte, das Euthanasiegesetz zu bestätigen und zu verkünden, nahm ihm das Parlament auch dieses Vorrecht weg.

Jean war am 6. Januar 1921 auf Schloss Berg als Sohn von Großherzogin Charlotte und Prinzgemahl Felix von Bourbon-Parma zur Welt gekommen. Sein Vater, der Cousin seiner Mutter, hatte noch drei Jahre zuvor als Oberleutnant auf der Seite Österreich-Ungarns und des Deutschen Kaiserreichs gekämpft. Als erstgeborener Sohn war Jean zum Thronfolger bestimmt und erhielt den Namen des mittelalterlichen Königs und Kreuzritters Johann des Blinden, der in der vaterländischen Geschichtsschreibung als Höhepunkt Luxemburger Machtentfaltung und Größe galt.

Standesgemäß verbrachte Jean in den Zwanzigerjahren und während der Weltwirtschaftskrise seine Kindheit mit seinen Prinzengeschwistern auf Schloss Berg. Als Fünfjähriger trippelte er zum ersten Mal an der Spitze der Schlussprozession mit, mit zwölf Jahren nahm er in Begleitung seines Vaters erstmals die Parade der Freiwilligenkompanie ab. Die Primärschullehrerin Marie Knaff und danach der Studienrat Nicolas Probst erteilten ihm Privatunterricht im Schloss, dann wurde er an ein edles Benediktiner-College im britischen York geschickt.

Als Jean volljährig wurde, verlieh ihm seine Mutter im Januar 1939 den Titel eines Erbgroßherzogs, während Deutschland den Überfall auf Polen vorbereitete. Die aus dem Scheitern des Maulkorbgesetzes hervorgegangene Regierung versuchte, dem drohenden deutschen Überfall Unabhängigkeitsfeiern und patriotische Umzüge entgegenzusetzen. Am Tag des Überfalls, am 10. Mai 1940, reiste der 19-jährige Erbgroßherzog mit seiner Familie ins Exil über Frankreich und Portugal bis nach Kanada, wo er zwei Jahre mit Studieren verbrachte.

Im Oktober 1942, als die Schlacht um Stalingrad tobte, zog Jean dann mit seinem Vater nach England und meldete sich zu den Irish Guards, einem nach dem Burenkrieg gegründeten Infanterieregiment der britischen Armee. Er wurde zum Offizier ausgebildet und setzte fünf Tage nach dem D-Day mit der Panzerdivision seiner Garde über den Ärmelkanal. Er nahm an der Befreiung Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs teil, kameradschaftlich und, wie es sich für einen blaublütigen Thronfolger gehört, wohl auch diskret protegiert. Jahrzehnte später sollte Geheimdienstdirektor Marco Mille in dem von ihm heimlich aufgenommenen Gespräch mit CSV-Premier Jean-Claude Juncker berichten: „Wir haben glaubwürdige Berichte, dass der Hof und der Großherzog selbst ständige Kontakte zu dem englischen Dienst unterhalten. […] Der Großherzog, sie haben alle gute Beziehungen zu England, sie haben alle ihre Ausbildung dort gemacht“ (d’Land, 30.11.2012).

Die Luxemburger Monarchie stand die meiste Zeit auf tönernen Füßen, ihre Geschichte ist auch die Geschichte des Kampfs um ihre Demontage. Die holländischen Königgroßherzöge Wilhelm I. bis III. waren in unterschiedlichem Maße als raffgierige Despoten verhasst. Die Nassauer Adolph, Wilhelm und Marie-Adelheid blieben Fremde aus einem anderen Land und einem anderen Jahrhundert, Marie-Adelheid musste sogar geopfert werden, um die Monarchie zu retten.

Großherzog Henri hatte im Jahr 2000 während eines Fernsehinterviews zum Thronwechsel gemeint: „Meine Großmutter und mein Vater bezogen ihre Legitimität aus dem Krieg und der wirtschaftlichen Entwicklung.“ Nach der Unterdrückung der Republik (d’Land, 12.4.2019) war Großherzogin Charlotte durch das Referendum von 1919 als erste Herrscherin demokratisch legitimiert und verkörperte im Zweiten Weltkrieg bis in die Linke hinein den nationalen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Sie verlieh der Monarchie mit Hilfe monarchistisch-katholischer Resistenzorganisationen ein bis dahin nie erreichtes Prestige, das noch durch den Kontrast zu der diskreditierten Exilregierung gewann.

So wie Charlotte die Landesmutter, wenn nicht die Trösterin der Betrübten in schweren Zeiten verkörpern sollte, so stellte ihr Sohn Jean den soldatischen Helden dar, der das Land mit der Waffe in der Hand befreite. Seine Legitimität bezog Jean eine ganze Generation lang aus einem immer wieder abgedruckten Foto, das ihn zeigt, wie er sich am 10. September 1944 mit Uniform und Baskenmütze in einem amerikanischen Geländewagen durch die befreite Hauptstadt fahren ließ. Die vom deutschen Faschismus befreite Menge umjubelte einen Thronfolger, der, anders als sein Vater, seine Tante, sein Großvater und sein Urgroßvater nicht „preisesch“ war.

Mit 30 Jahren heiratete Jean 1952 die belgische Prinzessin Joséphine-Charlotte. Sie war die Tochter des belgischen Königs Leopold, der wenige Monate zuvor abdanken musste, weil er Belgien mit seiner deutschfreundlichen Haltung während des Kriegs an den Rand eines Bürgerkriegs zu bringen drohte. Zwei Jahre später brachte ­Joséphine-Charlotte die erste von fünf Prinzessinnen und Prinzen zur Welt. Doch Maria-Astrid musste zugunsten ihres jüngeren Bruders Henri auf den Thron verzichten, weil der Nassauer Erbverein den Söhnen den Vorrang einräumte. Auf Anraten christlich-sozialer Politiker ernannte Großherzogin Charlotte 1961 ihren Sohn zum Leutnant-Statthalter, um die schließlich 1964 erfolgte Thronfolge als Veränderung in der Kontinuität, das konservative Ideal der Bewegung im Stillstand, vorzubereiten.

Die 36-jährige Herrschaft von Großherzog Jean war geprägt vom wirtschaftlichen Aufschwung, der industriellen Diversifizierung, vom Ausbau des Sozialstaats, von der gesellschaftichen Liberalisierung nach ’68, von der Konsum- und der Freizeitgesellschaft. Für den Schuman-Plang, die EWG und dann die EG wurde die Vaterlandsliebe, die Jean im Geländewagen der US-Armee weckte, in Europaliebe umgebogen, bis die Stahlkrise wieder patriotische Solidaritätsopfer verlangte und Jean den gütigen Vater einer großen Volksfamilie darstellen musste. Luxemburg empfing auch das vaterlandslose Finanzkapital mit offenen Armen, und der Kalte Krieg steuerte auf seine Entscheidungsschlacht zu.

Der katholisch-konservative Jean spielte alles mit. Er wurde zum Meister der huldvollen Zurückhaltung. Er hatte aus dem Schicksal von Tante Marie-Adelheid gelernt, dass es das Beste war, den Mund zu halten. So ließ er sich jahrzehntelang an Mosel und Sauer, in Tunesien und Japan Fabriken, Märkte, Schulen und Volksfeste zeigen und sagte stets nur freundlich lächelnd: „Schéiiin, schéiiin!“

Als die CSV 1974 in der Opposition landete, war er bereit, LSAP-Präsident Antoine Wehenkel zum Informateur zu ernennen, um eine Koali­tion ohne CSV vorzubereiten. Die Parteileitung ­bevorzugte Raymond Vouel und der Großherzog unterschrieb ein neues Arrêté. Das von der klerikalen Rechten lautstark bekämpfte Abtreibungsgesetz bestätigte und verkündigte der praktizierende Katholik nach einem symbolischen Zögern pflichtbewusst.

Die LSAP, die, wie so oft, nie richtig für und nie richtig gegen die Monarchie war, wirbt für das „schwedische Modell“ eines Staatsoberhaupts, das zwar nicht gewählt wird, aber dafür nur symbolische Funktionen ausübt, Chrysanthemen einweiht, nichtssagende Weihnachtsansprachen abliest und ansonsten den Mund hält, das weder zur Exekutive noch zur Legislative zählt. Kein Großherzog kam jemals dem sozialdemokratischen Ideal des „schwedischen Modells“ so nahe wie Jean, der sich in der Öffentlichkeit hartnäckig darauf beschränkte, nett zu sein. Ob er klug oder gebildet war, blieb Jeans Privatangelegenheit. Die unvermeidliche Volksnähe zeigte er mit kindlicher Begeisterung als Pfadfinder und Sportfunktionär. Staatsbesuche im japanischen Kaiserreich, in osteuropäischen Volksrepubliken und der brasilianischen Militärdiktatur absolvierte er unter den stets ungeduldigen Blicken der Großherzogin als gutgelaunter Tourist mit Sonnenbrille und Kleinbildkamera. In der Tradition des Hochadels, dessen Machtgrundlage ein Jahrtausend lang der Grundbesitz an Wiesen und Wäldern war, warb der leidenschaftliche Jäger als einer der Ersten für den Naturschutz.

Als RTL am frühen Dienstagmorgen den Tod des Großherzogs in einer SMS meldete, nannte der Sender ihn einen „großen Staatsmann“. In den anschließenden Radionachrichten wurde dann der Lebensweg des Verstorbenen beschrieben, die Kindheit, die Kriegsjahre, den Thronwechsel und die Abdankung. Nur vom Wichtigsten, von der 36-jährigen Herrschaft wusste man nichts zu berichten. Auch die Web-Seite des großherzoglichen Hofs erweist sich als unfähig, unter der Überschrift „Règne du Grand-Duc Jean“ irgendeine Angabe darüber zu machen, was der Herrscher während seiner langen Herrschaft geherrscht hat. Für einen Monarchen in einer ziemlich republikanischen Gesellschaft grenzt das an Genie.

Denn nach der Abdankung von Großherzog Jean hatte sein Erbe Henri angekündigt, „einen neuen Stil zu finden und in den nächsten Monaten zu verfeinern“. Mit der anfänglichen Unterstützung von CSV-Premier Jean-Claude Juncker, der den sozia­len Zusammenhalt durch Symbole nationalen Zusammenhalts ersetzen wollte, und zusammen mit der tatendurstigen Großherzogin wollte Großherzog Henri den dynamischen Bürgerkönig abgeben. Der Louis-Philippe des Neoliberalismus und des Finanzplatzes sollte in der Fremde nicht mehr für die Heimat, sondern für den Investi­tionsstandort kämpfen. Er wollte nicht mehr länger der Landesvater der Schulkinder und Witwen, sondern der dynamische Manager-Großherzog der kulturell dominierenden Mittelschichten und ein wenig wie sie sein. Er wollte nicht länger den Mund halten, sondern „die eigene Persönlichkeit“ und damit die sich bald als stockkonservativ erweisende eigene Meinung in die öffentlichen Angelegenheiten einbringen.

Nach jeder Menge Affären und Schnitzer im neuen Stil wollte laut einer acht Jahre nach dem Thronwechsel für Le Jeudi durchgeführten Meinungsumfrage ein Drittel der Bevölkerung die Monarchie abschaffen – mehr als beim Referendum 1919. Der scheinbar altmodische Stil von Großherzog Jean schien dieser doch dienlicher gewesen zu sein.

Romain Hilgert
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