Die Kritiker der Schulreform müssen nun Gegenvorschläge vorlegen

Bedenkzeit

d'Lëtzebuerger Land du 23.03.2012

Turbulenze mat de Kompetenzen! Bildung ass net négociabel! Mer wëllen déi Bilanen do net! Mit reichlich Plakaten bewaffnet, versammelten sich am Donnerstagnachmittag am Bahnhof in Luxemburg-Stadt zornige Lehrer und Gewerkschafter vereint im Protest. Ersten Schätzungen zufolge hatten zwischen 3 000 und 4 000 Demonstranten den Weg in die Hauptstadt gefunden. Auf jeden Fall waren viele dem gemeinsamen Aufruf der Gewerkschaften Apess, Feduse, FNCTTFEL, SEW und SNE gefolgt, um gegen die Gehälterreform, die Grundschul- und die geplante Sekundarschulreform zu protestieren.

Dabei war unklar, wie viele wirklich kommen würden. War dUnterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) doch am Montag überraschend auf eine der Hauptforderungen von Lehrergewerkschaften und Lehrerkomitees eingegangen, nämlich die Bedenkzeit für die Sekundarschulreform um zwölf Monate bis April 2013 zu verlängern. Dann will die Ministerin ein Gesetzvorentwurf der Abgeordnetenkammer zur Beratung vorlegen. Delvaux-Stehres hatte sich für dieseen Schritt zuvor grünes Licht vom Koalitionspartner geben lassen. Zu groß war der politische Druck geworden. In einem früheren, ihre Reformziele auf fünf Seiten noch einmal detailliert erläuternden Brief von Anfang Februar an die Programmkommssionen war davon noch keine Rede gewesen. Mit dem Vorstoß hofft die Unterrichtsministerin, so begründete sie in einem Brief an die Delegation der Vertreter der Lehrerkomitees, „eine konstruktive Diskussion“ zu ermöglichen.

Die war zusehends in weite Ferne gerückt. Die Lehrergewerkschaften, allen voran Apess und SEW, hatten ihre Position schon vor Wochen abgesteckt: Der Anfang Dezember präsentierte Vorentwurf müsse vom Tisch, erst dann, und ohne Vorbedingungen, sei man bereit, über mögliche Reformen reden. Ein entsprechendes Manifest hatten bis Mittwoch dem Gewerkschaftsbündnis zufolge mehr als 4 700 Lehrer unterschrieben, das sind, rechnet man die Lehrbeauftragten nicht hinzu, in etwa die Hälfte aller Lehrer. 29 Lehrerkomitees von insgesamt 32 Lyzeen hatten sich der Gewerkschaftshaltung angeschlossen und sich für eine Neueröffnung der Reformdebatte ausgesprochen. Und, last but not least, war auch noch die Opposition, die sich in der Vergangenheit eher schwer tat mit  konkreten Gegenvorschlägen, aus ihrer Deckung hervorgekommen und auf den Zug der Gewerkschaften aufgesprungen. Die Gelegenheit, hier wichtige Wählerstimmen zu fangen, wollte sich keine Partei entgehen lassen: die DP nicht, die mit dem Abgeordneten, Wirtschaftslehrer und Proci-Kritiker André Bauler einen zunehmend konservativen Kurs fährt. Und auch die Grünen nicht, deren schulpolitischer Sprecher Claude Adam vor allem eine Schuldige ausgemacht hat: Es sei die „aktuelle Logik der Konfrontation“, die Ministerin würde weiterhin „alle Kritik, Vorschläge oder konstruktive Bemerkungen“ ignorieren.

Es ist allerdings eine heikle Karte, auf die die Opposition da setzt. Denn ein Reformstau in der Bildungspolitik wäre auch für sie schwierig: Angesichts der sich ändernden Schülerpopulation und ungleichen Bildungschancen wird auch die Nachfolgeregierung nicht darum herumkommen, auf die Heterogenität in den Klassenräumen und die hohe Zahl an Klassenwiederholern eine Antwort zu finden. Ob zu einem späteren Zeitpunkt die Debatte um die „gute Schule“ entspannter ablaufen würde, bleibt zu beweisen: Einige Wortmeldungen der Lehrervertreter nach dem Kompromiss der Ministerin lassen darauf schließen, dass einige lieber gar keine als eine wie auch immer geartete Reform sehen würden.

Wie viele ist unklar: Wegen der aus Gewerkschaftssicht strategisch geschickten, aus Regierungswarte reichlich ungeschickten Verknüpfung von Gehälterreform und Schulreformen ist es schwierig, die Protestbewegung einzuschätzen. In den vergangenen Wochen haben sich zwar immer wieder Stimmen zu Wort gemeldet, die die Notwendigkeit von umfassenden Reformen auch in der Sekundarstufe unterstreichen, Historiker der Universität Luxemburg beispielsweise oder das Ombudskomitee für Kinderrechte, das davor warnte, einen Kampf „gegen ein Ministerium“ zu führen und zur „konstruktiven und sachlichen“ Debatte aufruft. In Leserbriefen, auf Facebook, und zuletzt in der Monatszeitschrift Forum finden sich auch nachdenkliche (Lehrer-)Beiträge. Allerdings: Sie sind bisher vereinzelt geblieben.

Insofern war der Schachzug der Ministerin, den Kritikern der Reformpläne mit Bedenkzeit entgegen zu kommen, geschickt: Nun sind sie aufgefordert, konkrete Gegenvorschläge zu liefern und aktiv nach pädagogischen Lösungen für die alarmierende Chancenungleichheit im Luxemburger Bildungswesen zu suchen. Und zwar nicht nur im technischen Sekundarunterricht, wo sich viele Schulen schon länger auf die Suche nach alternativen Unterrichtsmethoden und individuelleren Fördermaßnahmen gemacht haben. 

Sich hinter der Kritik an angeblicher miserabler Informationspolitik oder mangelnder Transparenz oder Demokratie zu verschanzen, geht dann nicht mehr, ohne selbst an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Sollte es zudem gelingen, die Gehälterreform von der Debatte um die Schule von morgen etwas zu entkoppeln, könnte das geschehen, wovor sich manch ein Gewerkschaftler fürchtet: Die Skeptiker müssten Farbe bekennen. Dann aber wären gewisse politische Bündnisse wohl nicht mehr so offensichtlich.

Ines Kurschat
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