Sekundarschulreform

Feindbilder

d'Lëtzebuerger Land du 09.12.2011

Im reichen Luxemburg klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander und ist so groß wie seit 30 Jahren nicht mehr. Das schreibt die OECD in einem aktuellen Bericht und empfiehlt als Mittel gegen die zunehmende Ungerechtigkeit, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, in Bildung zu investieren und Verteilungsmechanismen zu überdenken. Also ausgerechnet jene Organisation, die die Lehrergewerkschaft Apess als die „menschenverachtendste seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Wort vom 2.12.) bezeichnet. Es war auch die OECD-Bildungsstudie Pisa, die – nach der Magrip-Studie – die Aufmerksamkeit auf die tief eingelassene soziale Ungerechtigkeit des Luxemburger Bildungssystems lenkte.

Dass die Gewerkschaften SEW und Apess das anerkennen, ist unwahrscheinlich. Längst haben sie die Wirtschaftsorganisation zum Feindbild Nummer eins aufgebaut. Die Organisation, die 34 Länder weltweit vereinigt, orchestriere die schwarz-roten Bildungsreformen, so die Argumentation. Feindbilder dienen dazu, um Stimmung zu machen und zu mobilisieren. Der „Feind“ kommt aber nicht nur von außen. Journalisten, die sich kritisch mit den Reformideen auseinandersetzen, aber auch mit radikalen Gegnern und populistischen Parolen, erhalten Post, in der ihnen vorgeworfen wird, Handlanger des Systems zu sein. Andere trifft es härter: Lehrer, die sich öffentlich dazu bekennen, Reformen prinzipiell zu begrüßen oder sie wenigstens kühlen Kopfes prüfen zu wollen. Sie werden als Verräter beschimpft, von manchen Kollegen geschnitten. Bei so einem Klima wundert es nicht, wenn sich nur wenige Reformbefürworter aus der Deckung wagen. Glücklicherweise erfahren sie aber auch teilweise Unterstützung.

Viele Attacken geschehen nicht, das sei betont, im Namen der Gewerkschaften, aber ihre Absender sind zum Teil auch aktive Gewerkschaftsmitglieder. So dürfen diese sich nicht wundern, wenn sie für das giftiger werdende Klima verantwortlich gemacht werden. Gewerkschafter, die von „hasserfüllten Äußerungen“ sprechen, wenn die Präsidentin des Elterndachverbandes Lehrer als „reformresistent“ bezeichnet, oder einer Ministerin jede Kompetenz absprechen, weil diese keine Unterrichtspraxis mehr habe (ergo muss ein Gesundheitsminister operieren und ein Transportminister Laster fahren?), sollten aufpassen, wie weit sie es treiben. Ist das die Streit(un)kultur, mit der die Debatte über die Zukunft der Schulen und der luxemburgischen Gesellschaft geführt werden soll?

Der Vorentwurf zur Sekundarschulreform liegt nun vor. Alle Akteure – Schüler, Lehrer, Direktionen und auch Eltern – haben jetzt Zeit, sich ein Bild von den Plänen zu machen. Viel Neues gibt es nicht, wie das Land vor einer Woche feststellte. Das Ministerium hat den Akteuren zugestanden, bis Ende, nicht bis Anfang, März Stellung zu nehmen. Damit ist Zeit, die Vorschläge gründlich zu prüfen. Ohne Denkverbote.

Das wird dann der Moment der Wahrheit für alle sein: Für die Ministerin, ob sie plausible Gegenvorschläge akzeptieren kann. Aber genauso für die Gewerkschaften und Lehrerverbände: Werden sie pädagogisch sinnvolle, empirisch fundierte Alternativen auf den Tisch legen? Oder alles in Bausch und Bogen verdammen und auf den Status quo pochen? Dass die Gewerkschaften Apess und SEW ihr Nein gegen diese Reform mit der zeitgleich stattfindenden Reform des Beamtenstatuts verknüpft haben, um in der breiten Beamtenschaft Zustimmung zu gewinnen und eine gemeinsame Front zu bilden, lässt nichts Gutes ahnen. Das wäre dann der nächste Beweis, dass korporatistische Interessen und tiefer gehende gesellschaftliche Reformen hierzulande einander ausschließen.

Ines Kurschat
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