Helminger, Guy: Morgen war schon

Die gewaltige Gewesenheit des Gegenwärtigen

d'Lëtzebuerger Land du 15.11.2007

„Und wo bleibt das Positive, Herr Helminger?“ Diese Frage drängt sich nach der Lektüre von Morgen war schon, dem neuen Roman unseres ausgezeichneten Seismografen der condition humaine, förmlich auf. Und es steht zu befürchten, dass Guy Helminger, der es so meisterhaft versteht, das Zwischenmenschliche, Allzumenschliche bis in die tiefsten Abgründe auszuleuchten, mit Erich Kästner antworten würde: „Ja, weiß der Teufel wo!“ Gewiss, diese vier Generationen umspannende, tragische Familiengeschichte ist betrüblich. Aber sie ist auch fabelhaft erzählt. Was Wunder, dass der Chor der Kritiker beinahe harmonisch klingt. Nur einer will kein Loblied anstimmen. Nun ja, de gustibus non est disputandum. Aber jener alt gediente luxemburgische Literaturkritiker diskreditiert seine ästhetische Urteilskraft ohnehin selbst, wenn er behauptet, das vorliegende Buch sei „schlampig geschrieben“, und gerade solche Stellen anführt, die keinen Zweifel an Helmingers literarischer Begabung lassen. Ein Beispiel: „Feltzer sah, wie das Licht über das Haar des Bodybuilders rutschte, bevor es parfümiert auf dem Taxidach liegen blieb“. Merkwürdig, dass dieser belesene Rezensent eine derart vorzügliche, satirische Prosa als „abschreckend“ empfindet.Doch zum Inhalt! „Menschen sind komisch“, sagt die Großmutter eines Protagonisten euphemistisch und formuliert damit eine Ansicht, die wir bereits aus früheren Werken des 3sat-Preisträgers kennen. In diesem Roman aber sind die Figuren nicht bloß komisch, sie sind gestört und folglich sind es auch ihre sozialen Beziehungen.Eine diese Figuren etwa – sie heißt Claudia – hat einen eigenartigen Fetisch: Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum mit ihrem Geburtsdatum übereinstimmen und die sie fanatisch sammelt. Sie wohnt mit ihrem narzisstischen Freund Uwe zusammen, der seine gegenwärtige Existenz als kettenrauchender Künstler mit einer desolaten Lebensgeschichte begründet, die offensichtlich frei erfunden ist. Getreu dem Motto: „Die Wahrheit ist immer die Summe vieler Lügen.“ Ihre Nachbarn sind ein schlaksiger Theologe, der ununterbrochen Bruckner hört und eine mysteriöse, stumme Frau, die niemand wirklich kennt. Hier zeichnet sich eine Lebenswelt ab, die wie ein Kabinett der Skurrilitäten und Psychosen anmutet und nur ins Verderben führen kann. „Die Rauchfäden rissen an verschiedenen Stellen entzwei, schwebten als lose Enden schwerelos über dem Küchentisch.“ So wird der baldige Beziehungsbruch zwischen Uwe und Claudia metaphorisch vorweg genommen. „Du bist nicht meine Muse, du bist mein Untergang“, sagt Uwe und besiegelt zugleich den Untergang der Liebe. Wo diese fehlt, lässt die rohe Gewalt erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. In der pervertierten Lust der folgenden SM-Episode findet die Enttäuschung über das Scheitern der Partnerschaft einen brutalen Ausdruck, dem selbst die romantische Gegenwelt Bruckners, die aus dem Nachbarzimmer tönt, nichts mehr entgegenzusetzen hat. Am Ende brennt Uwe mit Claudias Mutter durch, einer verwitweten und dem Jugendwahn verfallenen Nymphomanin. In einer Rückblende erfahren wir von jener grauenhaft lieblosen Liaison, aus der die Tochter hervorging und die mit dem Freitod des Mannes jäh endete. Helmingers angemessen frostige Darstellungsform lässt hier dem Leser zuweilen den Atem frieren.Gleichfalls retrospektiv werden die Eltern der beiden Hauptfiguren Feltzer und Louise eingeführt und allmählich in ein dichtes Beziehungsnetz eingesponnen. Wiederum wird rasch ersichtlich: Die Menschen passen zusammen wie Feuer und Wasser. Manche versuchen gar, ihre Eskapaden unter Hinweis auf diese Grundverschiedenheit zu legitimieren. Beispielsweise betrügt Louises Vater, der notorische Vielredner, seine wortkarge Frau, unter dem Vorwand, mit ihr nicht zureichend sprechen zu können. Auch bei den Pro­tagonisten handelt es sich um ein Paar, das gegensätzlicher nicht sein könnte: Er wird als griesgrämiger, gestresster Taxifahrer porträtiert, der stets unterwegs ist und doch im Alltag stecken bleibt, weil er sein Geld bei Pferdewetten verzockt. Sie dagegen, die auf die Hektik der Umwelt mit Behäbigkeit antwortet, spart für eine Reise nach Neuseeland, dem Ort ihrer Sehnsucht.In einem wissen wir die Figuren jedenfalls Generationen übergreifend verbunden: in ihrer mehr oder minder stark ausgeprägten Bindungsunfähigkeit und Lieblosigkeit. Dabei fungiert die ältere Generation als unrühmliches, unterschwellig prägendes Urbild. Die vermeintliche Vergangenheit erweist sich als Gewesenheit – um die Verschränkung der Zeitebenen, die der Buchtitel Morgen war schon bereits andeutet, mit Martin Heidegger auf den Begriff zu bringen. Leider buchstabiert Helminger diese Gewesenheit im Sinne Nietzsches als nihilistische, ewige, wenn auch variierende Wiederkehr des Gleichen aus. Ihre Verkommenheit materialisiert er leitmotivisch in den abgenutzten Plüschgiraffen, die Feltzer an seinen Sohn vererben möchte.„Schon merkwürdig, wie die Vergangenheit zu Ende ist, aber immer wieder vor uns steht“, sagt eine junge Ärztin den werdenden Eltern, zeigt das Ungeborene per Ultraschall und stellt alsbald eine Herzanomalie fest. Dem Leser schwant, dass die bevorstehende Vergangenheit abermals schlecht sein wird. Das neue, scheinbare Glück, das sich zwischen Feltzer und Louise zaghaft angebahnt hat, vergeht mit seiner Ursache, dem gemeinsamen Kind. Als Symbol der Liebe hätte der Junge sowieso nicht gelten können, wurde er doch in einem Akt gezeugt, der an Vergewaltigung grenzte.Und so geschieht, was geschehen muss: Lennart wird geboren und Lennart stirbt. Freilich scheint die OP an seinem Herzen zunächst gut zu verlaufen – doch wie immer, wenn etwas in diesem Roman gut zu sein scheint, bleibt es beim Schein. Wenig später stirbt das Kind. In diesem Moment absoluter Trostlosigkeit und Sinnleere erkennt auch Feltzer: „Morgen war schon.“ Doch Morgen muss so nicht gewesen sein – Nietzsche hin oder her. Halten wir uns lieber an Kästners Sentenz „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“. Helmingers Romanfiguren taten es nicht. Wir sollten versuchen, aus ihren Fehlern zu lernen. 

Guy Helminger: Morgen war schon; Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2007; 331 Seiten; 19,80 Euro.

 

Jérôme Jaminet
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