Dass Chad Stahelskis Action-Spektakel um den in Ungnade gefallenen Auftragskiller John Wick mehr sind als nur extrem blutige Genrevariationen, ist hinlänglich bekannt. Eigentlich will der Mann ja nur aussteigen, aber man lässt ihm keine Ruhe: Was sich schon in den vorherigen Filmen andeutete, wird nun zur Gewissheit. John Wicks comichaftes Universum ist eine kafkaeske Vision autoritärer Systeme. In dem neuesten Ableger muss John Wick (Keanu Reeves) gegen das Oberhaupt der sogenannten ‚Hohen Kammer‘, Marquis de Gramont (Bill Skarsgård), antreten, um endlich die im Untergrund operierende Killergemeinschaft verlassen zu können. Wer wie John Wick gegen die Regeln verstößt, steht plötzlich außerhalb jeglicher Ordnung und hat eigentlich nur eine Chance: Musste er sich zuvor den Regeln unterwerfen und auf Gnade hoffen, so kann er jetzt nur noch die Regeln zu seinem Vorteil nutzen. Immer wieder werden die religiösen Anklänge innerhalb der Gilde betont. Jedes wirtschaftliche, politische und soziale System ist in Stahelskis Vision auch eine starre Glaubensordnung, daraus erwächst eine Doktrin mit archaischen, rückwärtsgewandten Riten, samt Blutschuld und Zweikampf, die bis in die Sprache hineinwirkt: Von Exkommunikation und Desakralisierung ist die Rede. Eine politische Parabel wird da ersichtlich, die drängende Fragen nach Anpassung und Revolution stellt – mit Eugène Delacroix‘ La Liberté guidant le peuple zudem auffällig prominent ins Bild gesetzt. Aus derlei Verweisen ist ferner ablesbar, dass der Film nach Höherem strebt: John Wick 4 ist ein Actionmusical, in dem es zuvorderst darum geht, spektakuläre Nummern aneinanderzureihen. Im Grunde waren bereits die Vorgängerfilme mit ihrer bis zum Exzess stilisierten Kampfchoreografie die passende Bühne für Keanu Reeves. Anmutig wie der Tänzer eines Handlungsballetts bewegt sich dieser Körper in langen, äußerst plastischen Einstellungen, in denen die Ästhetisierung der Gewalt keinerlei zur Gewalt animierenden Charakter besitzt, denn sie wirkt hochstilisiert, ihr Kunstcharakter zeigt sich. Der Verweis der Kunst auf sich selbst wird durch aufwändige Choreografie der Gewalttaten hervorgerufen. Dieses stilistische Konzept wurzelt freilich im Hongkong-Kino, die große Inspirationsquelle – geführt von Großmeister John Woo. Doch Woo erwies sich vielmehr als Totengräber; in seinem Mission Impossible II löste er jede Frage nach Sinn und Handlungslogik in reine kinetische Energie auf. Der Einfluss von Woos Filmen auf das amerikanische Kino, etwa mit Face/Off gipfelte Ende der 90-er-Jahre mit Matrix. Kein Wunder also, wenn die beiden Stuntchoreografen der Matrix-Reihe, Chad Stahelski und David Leitch, diese Actionstilistik in der John Wick-Reihe weiterführen. Dazu eine gehörige Portion Ironie, einem James Bond-Film nicht unähnlich, und dieser neue Actionheld, geboren aus der reinen Popkultur, kann auf die Leinwand gebracht werden. Das Abspielen der Standardsituationen vollzieht sich in dem nunmehr vierten Teil der Reihe mit einer noch größeren Verspieltheit, die die karikierende Selbstbezogenheit des Filmuniversums augenfällig in den Vordergrund stellt. Die letzte halbe Stunde des Films ist eine einzige große Actionsequenz, in der sämtliche physikalischen Gesetze aufgehoben sind. Was Bond kann, kann John Wick schon lange, nur tut er es ungleich eleganter. Seien es Feuergefechte, Verfolgungsjagden, Chad Stahelski inszeniert sie als schwereloses Gewalt-Ballett von äußerster Schönheit. Derart furiose Actionszenen von so sinn- und logikentleerter Schönheit hat es noch nicht gegeben. Ursache und Wirkung, Aktion und Reaktion stehen hier nicht mehr in inniger Verbindung sondern heben sich selbst auf – das Actionkino erreicht mit der John Wick-Serie eine neue Reinheitsstufe, in der sich alle Fragen nach Realitätsbezug in reiner Bewegung auflösen.
Loïc Millot
Catégories: Cinéma
Édition: 07.04.2023