Bislang war Belarus kaum mehr als ein weißer Fleck auf der Landkarte. Man wusste wenig über, man interessierte sich wenig für das Land, das mit immerhin drei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine gemeinsame Grenze hat. Doch die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen vom 9. August dieses Jahres rücken das Land in den Fokus der europäischen Aufmerksamkeit. Sie zeigen bekannte Sollbruchstellen in Autokratien: Auf der einen Seite steht eine junge, moderne, aufgeschlossene und auch mutige Bürgerschaft in den Städten des Landes, die mit friedlichen Mitteln für ihre Rechte und Reformen in Staat und Gesellschaft eintritt. Ihr Kontrahent ist Machthaber Alexander Lukaschenko, ein Autokrat alter Schule, dessen Anhängerschaft in der Bevölkerung Experten auf nur noch 20 Prozent schätzen. Er stützt seine Macht vor allem auf seine Geheim- wie Sicherheitsdienste, auf die Verwaltung sowie Menschen in ländlichen Regionen – und natürlich auf Moskau.
Eigentlich hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsident Wladimir Putin am 18. August telefonisch vereinbart, sich nicht in die inneren Angelegenheiten von Belarus einzumischen. Uneigentlich schuf der Kreml nahezu umgehend Fakten und stellt sich nachdrücklich hinter Lukaschenko. Russische Medienleute haben wichtige Positionen des belarussischen Rundfunks übernommen und Moskau ließ eine eigene Polizeireserve aufstellen. Auch soll es frische Kredite für Minsk geben und beim Gaspreis wird von russischem Entgegenkommen berichtet. Im Gegenzug dürfte der Kreml eine weitreichende Kooperation bis hin zur politischen Integration und damit eine noch engere Anbindung von Minsk an Moskau erwarten.
Dies geht vielen Belarussen eindeutig zu weit und wird als extreme starke äußere Einmischung gewertet. Viele von ihnen haben die Ukraine als mahnendes Beispiel für ein Staat im Wechselbad von Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu Russland. Die Protestierenden in Minsk erwarten allerdings vom Westen keinesfalls ein Einschreiten, schließlich will man die Dinge aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln regeln. Man glaubt tief und fest an die Wirkung friedlicher Proteste, die ein neues Selbstbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen haben, dass manch ein Beobachter darin einen „Durchbruch zur immer wieder verzögerten Nationenwerdung“ sieht, wie es die deutsche Wochenzeitung Die Zeit beschreibt. Dennoch erwarten die Belarussen bei der Verteidigung grundlegender europäischer Werte, wie Rechtsstaatlichkeit, Selbstbestimmung und Demokratie, Unterstützung von der Europäischen Union und insbesondere von Deutschland.
Berlin schaffte es als Ratsvorsitzende in der EU zunächst, den Staatenbund schnell agieren zu lassen: Innerhalb weniger Tage brachten die Außenminister erste Sanktionen gegen die Verantwortlichen der Wahlfälschung auf den Weg. Es schloss sich ein Gipfel an, der erstmals die Wahlen insgesamt nicht anerkannte, den Gewalteinsatz verurteilte, sich mit der belarussischen Gesellschaft solidarisierte und den Dialog zwischen Staat und Zivilgesellschaft forderte. Und dies genau bringt die EU zu einem ihrem ureigensten Dilemmata, zu ihrer Gretchenfrage: Wie halte ich es mit den Werten? Mit der Rechtsstaatlichkeit? Wie kann ich im „Äußeren“ dafür eintreten, wenn ich es im „Inneren“ damit nicht so genau nehme? Diese Grundsatzdiskussion lässt den Handlungswillen der EU erlahmen und gibt Russland den Freiraum, den es auch prompt ergreift.
Die Sache mit der Rechtsstaatlichkeit. In Bulgarien gehen seit Anfang Juli Tausende, manchmal auch Zehntausende Menschen auf die Straße. Tagtäglich. Weitestgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit. Und die Proteste in Sofia und in anderen Städten des Landes sind nicht weniger wütend als diejenigen in Minsk. Die Bulgaren fordern den Rücktritt von Premier Boiko Borissow und Generalstaatsanwalt Ivan Geshev. Ihr Land, so der Vorwurf, leide an Korruption, dem Missbrauch von EU-Geldern und an einem dysfunktionalen Justizsystem. Die Demonstrant/innen sind enttäuscht von der EU und wünschen sich, dass Brüssel mehr Druck auf Sofia ausübe, damit es endlich zu einem Wandel im Land kommt. Vergangene Woche haben Vertreter der Mehrheit der EU-Staaten einen konkreten Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft gebilligt, mit dem Mitgliedsstaaten bestraft werden können, wenn sie gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Selbstredend ist dies ein Vorschlag in typischer verwässerter EU-Kompromiss-Manier. Wenig überraschend war, dass Polen und Ungarn dem Vorschlag nicht zustimmten. Sie können ihn sogar noch verhindern, denn sie haben ein wichtiges Druckmittel in der Hand: die Zustimmung zum im Sommer ausgehandelten EU-Haushalt sowie den Corona-Wiederaufbaufonds.
Mit diesem Widerspruch muss Deutschland – auch im Namen der EU – seine Position gegenüber Minsk, aber auch gegenüber Moskau schärfen, um den Konflikt in Belarus zu deeskalieren. Dazu muss Deutschland allerdings Führung zeigen, was Berlin jedoch sehr widerstrebt. Damit es zu einer Lösung kommt, wird sich Deutschland eng mit den baltischen Staaten, Polen und Tschechien abstimmen müssen, die schnell eigene Sanktionen, aber auch Hilfe für Belarus auf den Weg brachten. In Ostmitteleuropa ist die Sensibilität für die dramatische Lage dort besonders ausgeprägt. Darüber hinaus ist es geboten, die sich formierende belarussische Zivilgesellschaft zu unterstützen und zu festigen. Es mag hilfreich sein, dass Berlin als Fürsprecher der EU in Moskau eher Gehör findet, schließlich gibt es gemeinsame wirtschaftliche Interessen bei allen politischen Divergenzen. In Minsk muss die EU jedoch darauf achten, mit welchen Versprechungen und Verheißungen sie auftritt und welche Sehnsüchte sie weckt, die sie dann doch nicht erfüllen kann. ●