Deutschland

Eine Frau aus der Eifel

d'Lëtzebuerger Land du 04.09.2020

Es gibt Wochenenden in Berlin, von denen man sich nachträglich wünscht, dass man sie stornieren könne. So war es etwa mit dem vergangenen Sonnabend. In den Tagen davor hegte man der Hoffnung stiller Wunsch, dass ein paar tausend Corona-Gegner, Verschwörungsgläubige oder Rechtsradikale sich mit bunten Wimpeln und Spruchbändern mit absurden Forderungen im Tiergarten träfen, um anschließend behaupten zu können, es seien über eine Million gewesen. Doch bereits im Vorfeld dieser jüngsten Anti-Corona-Demonstration zeigte sich in den sozialen Netzwerken – allen voran im Messenger-Dienst Telegram, dem bevorzugten Informationskanal von Rechtsextremen –, dass es alles andere als ein harmloser Samstagnachmittagsspaziergang werden würde. Dort schossen Gerüchte über Reaktionen auf die Proteste ins Kraut, die Hass mit Panikmache verbanden: Die Zufahrtsstraßen nach Berlin seien gesperrt. Panzer auf dem Weg in die Hauptstadt. Vermummte Antifa-Aktivisten in Kleinbussen unterwegs, gewaltbereit und zu allem entschlossen. Es sei das letzte Aufbäumen der erbärmlichen BRD-Verwalter, denen genau an jenem Tage die Macht entrissen werden müsse, auf dass nicht am darauffolgenden Montag die „Neue Weltordnung“ in Kraft treten könne, in der die herrschenden Eliten mit der weitgehenden Ausrottung der Menschheit begänne. Schließlich wurde sogar die standrechtliche Erschießung der Bundesregierung vor dem Reichstaggebäude gefordert.

Aus dieser aufgeheizten Situation heraus wollte Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) den Demonstrationszug verbieten. Er wolle Berlin nicht länger als Bühne für „Reichsbürger“ und Verschwörungsgläubige missbraucht sehen, sagte er dem lokalen Fernsehsender RBB. Obwohl diese Begründung in der Verbotsverfügung nicht auftauchte, war es fatal von Geisel, diesen offen auszusprechen. Die AfD nahm diese direkt und dankbar in ihre immerwährende Opferinszenierung auf. „Nie war es wichtiger, ein Zeichen zu setzen“, verkündete etwa Nicolaus Fest, Landesvorsitzender der AfD in Berlin. So riefen denn auch Vertreter dieser Partei, bei der Corona-Leugnung inzwischen zum festen Repertoire gehört, zum „Sturm auf Berlin“ auf. Anleihen beim nationalsozialistischen Sprachgebrauch waren dabei weder zufällig noch unbeabsichtigt.

So kam es am vergangenen Sonnabend zu einem Protest aller gegen alles: Rentner neben Rechten, Rastafaris neben Glatzköpfen, Impfgegner neben Antisemiten, Friedensaktivisten neben Putin-Fans, Regenbogenfahnen neben Reichskriegsflaggen, junge Familien neben einem Jäger mit einer scharfen Waffe. Bis zu 40 000 Menschen demonstrierten bis spät in die Nacht vordergründig gegen die Corona-Politik der Bundesregierung, hintergründig gegen „das System“ an sich. Teilweise verliefen die Proteste gewalttätig. Mindestens 33 Polizistinnen und Polizisten wurden verletzt, mehr als 300 Menschen festgenommen.

Mehrere hundert Demonstranten, darunter auch bekannte „Reichsbürger“, Mitglieder der Jungen Alternative für Deutschland, Ex-NPD-Kader, aber auch sogenannte „Corona-Rebellen“, durchbrachen Absperrungen und stürmten auf die Freitreppe des Reichstagsgebäude. Angestachelt wurden sie dazu von Tamara K., einer Esoterikerin aus der Eifel, die der „Reichsbürgerbewegung“ nahesteht. Damit ihre Worte an Gewicht gewannen, bediente sie sich alternativer Fakten: „Wir schreiben heute hier in Berlin Weltgeschichte“, so ihr Aufruf. „Guckt euch um, die Polizei hat die Helme abgesetzt. Vor diesem Gebäude [gemeint ist der Reichstag] und Trump ist in Berlin. Die ganze Botschaft ist hermetisch abgeriegelt, wir haben fast gewonnen. Wir brauchen Masse. Wir müssen jetzt beweisen, dass wir alle hier sind. Wir gehen da rauf und holen uns heute, hier und jetzt unser Hausrecht. Wir werden gleich diese komischen kleinen Dinger brav niederlegen und gehen da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben. Wir haben gewonnen.“ Am Abend zuvor hatte sie vor der russischen Botschaft in Berlin demonstriert, dort kündigte sie an, „dass wir morgen vereint dafür sorgen werden, dass diese BRD-Fake-Regierung abgewickelt wird. Wir wollen den Friedensvertrag.“ Mit dieser Forderung übernimmt sie die Argumentation der „Reichsbürgerbewegung“, die die Bundesrepublik Deutschland nicht als rechtmäßigen Staat anerkennen, da es nach dem Zweiten Weltkrieg nie einen richtigen Friedensvertrag gegeben habe. „Reichsbürger“ sehen sich deshalb auch dazu legitimiert, da staatliche Gewaltmonopol nicht anzuerkennen und selbst Quasi-Staaten zu gründen, in denen ihr eigenes Recht gilt. Zahlreiche Demonstranten, die zu den Anti-Corona-Demonstrationen angereist waren, wollten am Wochenende den Friedensvertrag mit Russland und den USA schließen.

Politiker fast aller Parteien – außer der AfD natürlich, die an den Demonstrationen teilnahm – zeigten sich entsetzt über die Ereignisse vor dem Reichstagsgebäude. Von einem „unerträglichen Angriff auf das Herz unserer Demokratie“, sprach etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte: „Nach diesen Szenen sollte der Letzte verstanden haben, dass es auch Grenzen des Anstands gibt, wie weit man mitträgt, wer mit einem mitläuft.“ Bundesinnenminister Horst Seehofer dazu: „Der Staat muss gegenüber solchen Leuten mit null Toleranz und konsequenter Härte durchgreifen.“ Ob dazu auch Demonstrationsverbote gehören werden, ist fraglich. Der deutsche Verfassungsschutz geht davon aus, dass das durch den Berliner Senat dürftig begründete und folglich gescheiterte Demo-Verbot die rechtsextremistische Szene zusätzlich mobilisieren hat. Einigkeit herrscht hingegen bei der Einschätzung darüber, dass wer die Werte einer Demokratie schützen will, dies auch mit deren Symbolen tun muss.

Martin Theobald
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