Mehr oder weniger staatliche und private Überwachung? Für oder gegen den Generalverdacht? Auch darüber werden die Wählerinnen und Wähler am 25. Mai abstimmen

Richtungswahl

d'Lëtzebuerger Land du 16.05.2014

Das Urteil sei „ein Grund zur Genugtuung“, sagte Luxemburgs oberster Datenschützer, Gérard Lommel, am Donnerstag dem Wort. Tags zuvor hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschieden, dass Suchmaschinenbetreiber wie Google Links zu persönlichen Informationen auf Antrag löschen müssen. Der Richterspruch wurde von der Justizkommissarin und CSV-Europakandidaten Viviane Reding per E-Mail begrüßt. Geradeso, wie der vor fünf Wochen, als die EuGH-Richter die umstrittene europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung kippten.

Die publikumswirksame Beifallsbekundung kurz vor den Europawahlen könnte den Eindruck erwecken, als sei Datenschutz ein wichtiges Thema in diesem Wahlkampf. Ist es aber nicht. Auch nicht in Luxemburg, obwohl sich hier mit dem EuGH-Urteil von vor fünf Wochen einige Fragen besonders dringlich stellen. Es war die schwarz-rote Regierung, die die Vorratsdatenspeicherung 2005 mit den Stimmen der Mehrheitsparteien, der Liberalen sowie der ADR gestimmt hatte. Das Gesetz ist nach dem EuGH-Urteil weiterhin in Kraft, auch wenn es 2010 nachgebessert wurde und beispielsweise Telekommunikations-Verbindungsdaten ohne konkreten Tatverdacht nur noch für sechs Monate gespeichert werden dürfen und nur ein Untersuchungsrichter die Nutzung dieser Daten zur Strafverfolgung veranlassen kann.

Der grüne Justizminister Félix Braz hatte als Reak-tion auf das Urteil versprochen, das nationale Gesetz zu analysieren und prüfen zu lassen, inwiefern die Argumentation der Richter, etwa zur gebotenen Verhältnismäßigkeit solch einer Massenüberwachung gegenüber dem Recht auf Privatsphäre, auch auf die hiesige Vorratsdatenspeicherung zutrifft. Vergangene Woche wurde die Frist, bis wann eine diesbezügliche parlamentarische Anfrage des LSAP-Abgeordneten Franz Fayot beantwortet sein muss, verlängert. Offizielle Begründung des Justizministers für die zeitliche Verzögerung: Weil das Gesetz auch das Kommunikationsministerium betreffe, müsse er sich noch mit Kommunikationsminister Xavier Bettel (DP) beraten.

Offenbar liegen auch noch nicht alle Gutachten vor, die der Justizminister bei der Datenschutzkommission, der Staatsanwaltschaft und im Medienministerium angefragt hat. Das soll in der kommenden Woche der Fall sein. Die Expertisen, die neben der Vereinbarkeit der Luxemburger Vorratsdatenspeicherung mit dem EuGH-Urteil auch analysieren sollen, inwieweit diese mit der Europäischen Menschenrechtscharta konform ist, sollen zunächst intern sowie mit der parlamentarischen Justizkommission diskutiert werden, bevor daraus mögliche legislative Konsequenzen erfolgen.

Gérard Lommel, vom Land zum Gutachten kontaktiert, bestätigte, die Datenschutzkommission werde ihr Gutachten am heutigen Freitag dem Justizminister zukommen lassen. In „einigen Tagen“, so verspricht Lommel, werde es auf der Webseite der Datenschutzkommission einsehbar sein. Über den Inhalt der Analyse wollte Lommel nichts verraten, nur so viel, dass sich darin „auch einige Anmerkungen und Wünsche aus unserem Gutachten zur Vorratsdatenspeicherung von 2010 wiederfinden“. Damals hatten die Datenschützer Bedenken zur Verhältnismäßigkeit sowie zur Speicherung der Daten geäußert, denen „nur teilweise Rechnung getragen wurden“, erinnert Lommel. Bis heute ist nicht klar, inwiefern die Vorratsdatenspeicherung, wie vom Gesetzgeber behauptet, wirklich dazu beiträgt, Terrorismus, organisierte Kriminalität und schwere Verbrechen effizienter zu verfolgen. Eine nach Tatverdacht aufgeschlüsselte offizielle Statistik gibt es auf Land-Nachfrage selbst bei der Justiz nicht, obwohl Insider angeben, mit solchen Daten wären in der Vergangenheit beispielsweise Vergewaltiger geortet und überführt worden.

Spätestens dann also, nach Vorlage der Expertisen in den kommenden Tagen, werden einige, die in Wahlzeiten jetzt den großen Datenschützer geben, Farbe bekennen müssen, wie ernst sie es mit dem Datenschutz und der informationellen Selbstbestimmung der Bürger wirklich meinen.

In den Europa-Wahlprogrammen sind es nur die Grünen und die Linken, die auf die Vorratsdatenspeicherung eingehen. Die Grünen gehen am weitesten. Sie setzen sich ein „für informelle Selbstbestimmung, für starke Datenschutzgesetze und Datensparsamkeit bei personenbezogenen Daten“ und versprechen: „Die europäische Direktive zur Vorratsdatenspeicherung wollen wir rückgängig machen.“ Wobei die Frage bleibt, ob damit auch Luxemburgs Vorratsdatenspeicherung gemeint ist. „Déi Gréng haben ein Glaubwürdigkeitsproblem“, findet Jan Guth vom Chaos Computer Club. „Konsequent wäre, das Gesetz zurückzuziehen.“ Auf den grünen Justizminister dürfte sehr bald einiger Erklärungsdruck zukommen: Die Strafverfolgungsbehörden standen bislang immer hinter der Vorratsdatenspeicherung. Déi Lénk betonen in ihrem Programm „das Recht auf Information, durch freien Zugang zu den Kommunikationsnetzen (Internet), ohne Kontrolle, Überwachung und Spionage (bis auf sehr seltene, begrenzte Ausnahmen, die der Prävention und der Eindämmung krimineller Machenschaften dienen)“, haben aber vergessen, die nationale Vorratsdatenspeicherung zu erwähnen. Déi Gréng und déi Lénk waren es, die damals gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung stimmten.

Die Piraten „sind gegen den Austausch von persönlichen Daten innerhalb und außerhalb der EU ohne Grund“. Dies schließe den „Transfer von Passagier- und Bankdaten mit Drittstaaten wie den USA, die Eurosur-Grenzerfassung und den Austausch von Daten aus nationalen Polizeidatenbanken ein“. (d’Land vom 18.10.2013)

In den Programmen der KPL, der PiD, der ADR und der LSAP tauchen die Schlagwörter „Vorratsdatenspeicherung“ oder „Datenschutz“ nicht auf. Im LSAP-Programm steht lediglich: „Die Sozialisten werden dafür sorgen, dass die personenbezogenen Daten durch eine umfassende europäische Gesetzgebung entsprechend geschützt werden.“ Selbst Viviane Redings Partei, die CSV, verspricht nur vage, die Datenschutzregeln „zugunsten der Bürger zu verstärken“.

Dabei hatten auf einem Rundtischgespräch Ende April, das der Chaos Computer Club Luxemburg organisiert hatte und das vom Radio 100,7 moderiert wurde, die Parteienvertreter noch anders geklungen. Unter dem Titel Is the EU watching us? wurde parteienübergreifend mehr Datenschutz angemahnt und die Massen-Überwachung angeprangert. Das ging sogar so weit, dass sich sämtliche Parteien mit Ausnahme der PiD und der ADR, deren Kandidat Fernard Kartheiser meinte, unter „befreundeten Staaten“ gehe das nicht, sich für ein Asyl für Edward Snowden aussprachen. Als Verteidiger von Demokratie und Rechtsstaat müsse man dem NSA-Whistleblower Zuflucht gewähren. Sogar Frank Engel von der CSV fand, dass, da Snowden in den USA „keinen fairen Prozess“ bekäme, Luxemburg ihm Asyl geben sollte. Die CSV ist Mitglied der Europäischen Volkspartei und damit derselben Fraktion, der auch Bundeskanzlerin Angela Merkel angehört, deren Regierung sich gerade bemüht, eine Anhörung Snowdens vor dem NSA-Untersuchungsausschuss um jeden Preis zu verhindern.

Das alles klingt vor dem überwiegend jungen und netzaffinen Publikum natürlich super. Doch die Eigenwerbung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Datenschutz bei diesen Wahlen allenfalls am Rande erwähnt wird und die meisten Luxemburger Politiker wenig dazu beitragen, dies zu ändern. NSA, Prism, Srel – all das erscheint inzwischen Lichtjahre entfernt. So als habe es den massiven Spähangriff auf europäische und damit auch Luxemburger Bürger durch den US-Geheimdienst nie gegeben, als seien alle Fragen zur Zusammenarbeit zwischen inländischem (Srel) und ausländischen Geheimdiensten beantwortet. Während in Deutschland immerhin ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss darum ringt, Licht in das millionenfache Ausspähen der deutschen Bürger zu bringen, ist die Resonanz auf die jahrelange Bespitzelung von tausenden von Gewerkschaftern, Feministinnen, Kommunisten, Grünen und anderen mehr durch den Srel gleich Null.

Sogar die neue Regierung, die von den Geheimdienstskandalen indirekt profitiert hat und versprochen hatte, Lehren aus der Geheimniskrämerei und dem staatlichen Kontrollwahn zu ziehen, hat nun eine Geheimdienstreform vorgelegt, die laut Jan Guth vom Chaos Computer Club die Vorratsdatenspeicherung selbst dann erlauben würde, „wenn das entsprechende Gesetz ungültig würde – im Rahmen des Sonderstatuts für den Srel“. Die neue Regierung habe „bisher nichts für mehr Datenschutz getan“. Es sei „keine ernsthafte Änderung in Sicht, weder ist das Gesetz zur Netzneutralität gekommen, noch wurde die Bespitzelung aufgeklärt“, stellt der IT-Experte enttäuscht fest, der auch die zunehmende Überwachung des öffentlichen Raums durch private und staatliche Videokameras sehr kritisch sieht.

Und in der öffentlichen Debatte? Ist das für die allermeisten sowieso kein Thema. Weil viele offenbar die Auswirkungen der Massenüberwachung, aber auch von europäischen Big-Brother-Forschungsprogrammen wie Indect (d’Land vom 14.06.2013) auf das eigene Dasein sich noch (immer) nicht richtig vorstellen können oder wollen. Sie sehen nicht, wie eine unheilige Allianz aus High-Tech- und IT-Firmen, Politikern, Polizei und Geheimdiensten dabei ist, ein globales Überwachungssystem aufzubauen, das in jeden Winkel unseres Lebens hineinreicht und sich von demokratischen Kontrollmechanismen völlig losgekoppelt hat.

Ein Leben ohne Computer ist kaum mehr vorstellbar, immer mehr gesellschaftliche Bereiche werden durchdigitalisiert, wie die Gesundheit (E-Health), Bankgeschäfte (E-Banking, PayPal) und sogar das Heizen der Wohnung geschieht per digitalem Schaltsignal und verlagert sich somit ins Netz. NSA aber lehrt, dass, wo Daten gespeichert sind, der unbefugte Zugriff und Missbrauch nicht weit ist – und dass mit dem Verbinden von persönlichen Daten Bewegungsprofile erstellt und ganze Lebensläufe rekonstruiert werden können. Und wir helfen mit Kinderfotos, Orts-, Berufs- und Beziehungsangaben auf Facebook, Linked-In, Instagram, Find my friends, Twitter und so weiter fleißig mit.

Das Europäische Parlament ist im Kampf gegen die Abschaffung der Privatsphäre durch Geheimdienste und IT-Unternehmen und für mehr informationelle Selbstbestimmung auch keine verlässliche Stütze. Es soll zwar in der neuen Legislaturperiode endlich über eine europaweite Datenschutzverordnung abstimmen. Aber es waren Brüsseler Abgeordnete, vor allem Konservative, Liberale und Sozialdemokraten, die im Februar für die Einführung eines elektronischen GPS-Notrufsystems im Auto (E-Call) stimmten. Verpflichtend, das heißt, jeder Autofahrer muss ab Herbst 2015 ein solches System in seinem Neuwagen mitführen. Dabei warnen Datenschützer davor, dass diese Ortungssysteme, obschon sie dazu dienen sollen, bei Verkehrsunfällen Rettungsdienste schneller zum Verunglückten zu bringen, von Dritten missbraucht werden können, und hatten zumindest Wahlfreiheit für die Nutzer gefordert. Schon werben Versicherungen mit niedrigeren Tarifen jene, die ihr Fahrverhalten jetzt schon freiwillig permanent per Blackbox überwachen lassen. Die Luxemburger Datenschutzkommission äußerte sich zu dem E-Call-Votum damals übrigens nicht.

Ines Kurschat
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