Beton, Glas a Kultur

d'Lëtzebuerger Land du 03.06.2022

Selbstreferentialität „Agora, des Kéier gees de ze wäit, vill ze wäit. Dat heiten, dat ass offensichtlech, dat ass plakativ, dat ass net subtil genuch, dat ass visibel“, warnt Dan Kaemmpfer von Eescht a Jonk (E&J). „Ma nee, mir gi net wäit genuch“, erwidert Agora, Sohn des Staatos und Arcelor-Mitallos. Doch Kaemmpfer insistiert: „Wann däi Papp, de Statos, dat géif matkréien...“. „Dee weess dat dach scho laang. An e belitt sech just selwer“, wiegelt Agora ab. In seinem Theaterstück Esch ass dout hatte Richtung 22 (R22) Ende April die vielschichtigen Verflechtungen zwischen Staat, Arcelor-Mittal, Big Four und Finanzplatz bei der „Cloche d᾽Or-isierung des Südens“ auf unterhaltsame Weise offengelegt. In seinem neuen Film Gosstown zeigt das Künstlerkollektiv nun, wie auch Kultur und insbesondere die Europäische Kulturhauptstadt Esch 2022 aktiv zur Gentrifizierung der einstigen Minettmetropole beitragen. Die Premie-
re fand vor zehn Tagen im Aalt Stadhaus in Differdingen statt, am Samstagabend wurde der einstündige Film unter freiem Himmel auf der Place des Mines im Escher Viertel Hiël gezeigt.

Gosstown erzählt die Geschichte der drei Jugendlichen Ka, Jo und Di, die ihre Freizeit damit verbringen, in verlassenen Gebäuden auf der Industriebrache Esch-Schifflingen zu squatten. Eines Tages finden sie heraus, dass dort ein neues Stadtviertel gebaut werden soll, ausgerechnet von „kostüméiert Aaschlächer“. Um die Brache noch zu retten, stürmt die Idealistin Ka ein Meeting, bei dem der auf maximalen Profit bedachte PPP-Gott Agora und der mephistophelische Dan Kaemmpfer von E&J Pläne für das neue Viertel schmieden. Die einfältige Fancy Grey von Esch 2022, der intellektuelle Besserwisser Mosart von der Escher Konschthal, der selbstverliebte Waldmeister von frEsch und der blutdürstige Escher Schöffe Vampim Knaf sind auch bei dem Treffen dabei.

Aus den Fehlern von Cloche d᾽Or und von Belval haben die „Vollidioten mat vill ze vill Goss“ ihre Lehren gezogen. Auf der neuen Brache wollen sie den Investoren „Authentizität“ und eine „reiche Vergangenheit“ – die „Seele“ des Viertels – verkaufen. Damit könnten sie den Quadratmeterpreis von 10 000 auf 16 000 Euro erhöhen, weiß Kaemmpfer. Ka kommt ihnen gerade recht, denn was ist authentischer als „lokale Künstler“. Als Name für das neue Viertel schlägt sie ihnen Gosstown vor, die Bezeichnung, die die drei Jugendlichen sich selbst für ihren Lieblingsort ausgedacht hatten. Fancy Grey und Dan Kaem-mpfer sind begeistert. Einen authentischeren Namen für ein Viertel auf einem ehemaligen Schmelzgelände hätten sie sich nicht wünschen können. Von der Idee sind sie so angetan, dass Kaemmpfer die drei Freunde damit beauftragt, ihm die Seelen von Belval, Rout Lëns und Esch-Schifflingen einzufangen. Ka stimmt zu, unter der Bedingung, dass sie volle künstlerische Freiheit erhalten und statt eines Gehalts das kleine Stellhäuschen, an dem Ka, Jo und Di zu Beginn des Films den Schriftzug Gosstown angebracht hatten.

Der Film ist Teil einer Serie von Aktionen, die R22 im Rahmen ihres Engagements für die Europäische Kulturhauptstadt umgesetzt hat und noch umsetzen wird. Das Konzept des von Esch 2022 finanzierten Projekts dreht sich um die Vereinnahmung des proletarisch geprägten Südens durch das internationale Finanzkapital. Repräsentativ dafür steht die Hauptfigur Dan Kaemmpfer, laut seinem Linked‘in-Profil „Deputy-Territory-Senior-Partner“ bei der „schmierigen Beraterfirma“ Eescht a Jonk. Schon vor der offiziellen Eröffnung der Kulturhauptstadt im Februar war er mit seinen Begleitern von der Cloche d᾽Or den ganzen Weg nach Esch gelaufen, um „Beton, Glas a Kultur“ in den Süden zu bringen. Nach dem Theaterstück Esch ass dout im April ist Gosstown nun ein weiterer Beitrag, der diese Entwicklung künstlerisch nachzeichnet.

Satire Kritische Inszenierungen von politischen und aktualitätsbezogenen Themen sind seit Jahren ein Markenzeichen von R22. Der Rückgriff auf das Stilmittel der Satire gewährt dem Kollektiv fast uneingeschränkte künstlerische Freiheit. Gosstown ist gespickt mit Seitenhieben an die Protagonistinnen von Esch 2022: Etwa wenn Fancy Grey Mosart mit einer Klage wegen Insubordination droht, als der ihr widerspricht, oder wenn Vampim Knaf ständig an seinem Weinglas nippt und allen erzählt, dass er überall hinkomme, seit er einen Chauffeur habe. R22 parodiert sie liebevoll.

Aus kunstkritischer Perspektive ließe sich bemängeln, die Darstellung der Figuren in Gosstown sei zu plakativ, die Inszenierung zu unausgereift, die Kameraführung zu konventionell und die schauspielerischen Darbietungen seien manchmal zu unprofessionell. Allerdings ist es gerade die DIY- und Low-Budget-Attitüde, die den „authentischen“ Charme des Films ausmacht. Der Rückgriff auf das Plakative erlaubt es R22, die Dinge beim Namen zu nennen. Auf diese Weise denunziert Gosstown die zwielichtige Rolle des Staates als eine Art Privatpromotor in der undurchsichtigen Entwicklungsgesellschaft Agora. Obwohl die Öffentlichkeit mit 50 Prozent an Agora beteiligt ist, wurde bislang weder der Gründungsvertrag veröffentlicht, noch wird offengelegt, was genau mit den Gewinnen in zweistelliger Millionenhöhe passiert, die das Unternehmen seit einigen Jahren einfährt. In Belval hat Agora lediglich zehn Prozent erschwinglichen Wohnraum geschaffen; die meisten Grundstücke wurden für viel Geld (wie viel genau, ist geheim) an nationale und multinationale Baumagnaten veräußert, die dort Hochhäuser errichten und mit dem Verkauf von Wohnungen und Gewerbeflächen hohe Profite erzielen. In Esch-Schifflingen soll der Anteil an subventioniertem Wohnraum zwar auf 30 Prozent erhöht werden, doch angesichts der Wohnungsnot, die sich in Luxemburg von Jahr zu Jahr verschärft, ist auch das noch viel zu wenig – insbesondere für eine Firma, die zur Hälfte dem Staat gehört.

In ihrem Film denunziert R22, wie Kapitalisten mit Schlagworten wie Nachhaltigkeit, Innovation, Resilienz und Authentizität Green- und Art-Washing betreiben. Sowohl auf der Lentille Terre Rouge, die von der privaten Baugesellschaft Iko von Eric Lux verwaltet wird, als auch auf der von Agora zu entwickelnden Brache Esch-Schifflingen sollen die Tram, Radwege, Parks und Kreislaufwirtschaft einen wichtigen Platz einnehmen. Maßnahmen wie die Wiederverwertung von Abwasser, Geothermie und Photovoltaik, die bei Neubauten eigentlich längst Standard sein sollten, werden als Innovationen beworben, die höhere Preise rechtfertigen sollen.

Genauso verhält es sich mit Esch 2022. Design und Kunst werden hier vor allem als Wirtschaftsfaktor betrachtet, um den Tourismus anzukurbeln und Investoren anzuziehen. Die gesamte Veranstaltung ist ultra-
kommerzialisiert, die Logos der drei Hauptsponsoren sind überall zu sehen und lassen selbst die beste Ausstellung wie eine Werbekampagne für Autos, Süßwaren und Stahl erscheinen. Seit RTL, Wort, Tageblatt und L᾽Essentiel offiziell Medienpartner sind und Maison Moderne das PR-Blatt Gazette herausgeben darf, braucht Esch 2022 sich vor kritischer Berichterstattung nicht mehr zu fürchten. Dass die Eröffnungsfeier der Europäischen Kulturhauptstadt vor zwei Wochen ausgerechnet von der internationalen Werbebranche mit einem Golden Award ausgezeichnet wurde, spricht Bände. Auf freie künstlerische Entfaltung oder Förderung von jungen Talenten wird bei Esch 2022 kaum Wert gelegt. Selbst R22 ist inzwischen – zehn Jahre nach seiner Gründung – fester Bestandteil des exklusiven Luxemburger Kulturbetriebs, auch wenn das Kollektiv sich ständig erneuert und mit gesellschaftskritischen Aktionen immer wieder versucht, aus diesem Kreis auszubrechen. Wirklich schockieren tun ihre Projekte nur noch die Wenigsten.

Identität Generaldirektorin Nancy Braun und die politischen Verantwortlichen von Esch 2022 haben in den vergangenen Monaten wiederholt erklärt, der Südregion mit der Kulturhauptstadt zu einer neuen Identität verhelfen zu wollen. Doch der Identitätswandel hat schon vor Jahren eingesetzt. Die Südregion befindet sich längst im Umbruch, begonnen hat er 2003 mit der Entscheidung der CSV-DP-Regierung, die Uni Luxemburg in Esch/Alzette anzusiedeln. Die neuen Viertel Nonnewisen und Belval ziehen schon jetzt vor allem die obere Mittelschicht an. Doch auch im noch proletarisch geprägten Stadtzentrum wird die Bevölkerungsstruktur durch mehrere größere Neubauprojekte künftig „heterogener“ werden. Und die Viertel Grenz und Hiël, die in Gosstown etwas romantisiert als „Ort der Migration“ dargestellt werden, sind in Wirklichkeit keine „Uarbechterquartieren“ mehr. Die meisten Häuser in den früheren Arbed-Siedlungen in der Rue Renaudin und der Rue des Mines wurden von Mittelschichtfamilien aufgekauft, ausgebaut und aufwendig renoviert. Die geplante Ansiedlung des Bus à haut niveau de service in dem Viertel wird den Wohnraum noch wertvoller machen und die Gentrifizierung weiter beschleunigen.

Man könnte den Künstlerinnen von R22 vorhalten, sie seien in ihrem Film nicht ausreichend darauf eingegangen, dass die systematische Vertreibung der unteren Bevölkerungsschichten aus Esch/Alzette nicht nur von einem anonymen Staat, einem großgrundbesitzenden Stahlunternehmen und ihren Finanzberatern gewollt war, sondern von mehreren Regierungen und diversen Schöffenräten von langer Hand vorbereitet und gefördert wurde und noch immer wird. Seit CSV, DP und Grüne 2017 im Rathaus eine Koalition gebildet haben, lässt sich ein regelrechter Ausverkauf von Esch beobachten, der von der blau-rot-grünen Regierung zusätzlich unterstützt wird. Eventuell hört die Satire von R22 dort auf, wo die politische Verantwortung beginnt. Anklagen will sie nicht. Doch vielleicht wird das Kollektiv auch diese Grenze noch überschreiten. Bis Ende des Jahres hat R22 weitere Projekte geplant: Ihr „Gesamtkunstwerk“ beinhaltet partizipative Aktionen im öffentlichen Raum, die Herausgabe einer Zeitung, die im Süden gratis verteilt wird, zwei weitere Theaterstücke und einen zweiten Film. Dass es über Esch 2022 vom Staat und der Stadt Esch mitfinanziert wird, sollte für R22 jedenfalls kein Hindernis darstellen, um „vill ze wäit ze goen“.

Luc Laboulle
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