Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres zur Sekundarschulreform und zu neun Jahren Bildungspolitik

„Das Classique wird schrumpfen“

d'Lëtzebuerger Land du 26.04.2013

D’Lëtzebuerger Land: 19 Verhandlungen mit der Lehrerdelegation, über 400 Seiten Daten und Statistiken, und jetzt wirft Ihnen die DNL vor, Sie hätten nicht kontradiktorisch diskutiert. Ist Ihre Kommunikationsoffensive gescheitert?

Mady Delvaux-Stehres: Mein Eindruck war, dass wir wirklich kontrovers diskutiert haben. Es waren Diskussionen, keine Verhandlungen. Ich habe der DNL von Anfang an gesagt, dass sie nicht mein einziger Gesprächspartner ist. Neben den Lehrern, die eine wichtige Rolle in der Sekundarschulreform spielen, sind es die Eltern, die Direktoren, die Schüler und die Berufskammern.

War es ein Fehler, den Lehrern und den Gewerkschaften entgegenzukommen? Das hat nicht nur Zeit gekostet.

Eine Reihe der Vorschläge, die wir gemacht haben, die zu Beginn auf Unverständnis bei der DNL gestoßen sind, sind jetzt wieder auf dem Tisch. Andere nicht. Bei rund 90 Prozent der Vorschläge, die die DNL gemacht hat, decken sich unsere Sichtweisen. Wenn Dialog allerdings meint, dass man sich in allen Punkten einig sein muss, geht das so nicht.

Was geschieht jetzt?

Mein Entwurf wurde am Donnerstag vom Regierungsrat angenommen, folgt der Instanzenweg. Dann können sich alle Parteien ein weiteres Mal äußern. Nach drei Jahren Debatte meine ich, einen konsensfähigen Text vorlegen zu können, der uns den Zielen, die wir uns in der Bildungspolitik gesetzt haben, näher bringt. Es stört mich zunehmend, dass wir nur noch über Kommunikation und Dialog reden. Der Fokus muss auf den Inhalten liegen, darauf, was das Beste für die Schüler ist.

Eines Ihrer erklärten Ziele lautet, die Studierfähigkeit zu erhöhen und mehr Schülern den Zugang zur Hochschule zu erlauben. Ausgerechnet dort ist die Datenlage schwach.

Das stimmt. Wir haben kaum Daten über unsere Studenten. Das bedauern wir seit Jahren. Wir basieren uns insbesondere auf Gespräche, die wir mit Studentenvertretern hatten. Diese geben uns in vielen Punkten Recht, etwa beim eigenverantwortlichen Lernen und darin, transversalen Kompetenzen mehr Rechnung zu tragen. Die erfolgreichen Studenten, wohlgemerkt, denn die anderen erreichen wir nicht.

Ein anderer Vorschlag war die automatische Versetzung von der 7e in die 6e des Technique. Nicht nur die DNL lehnt diese kategorisch ab. Bildungsforscher sind sich aber einig, dass Sitzenbleiben allein keinen Lernerfolg bringt. Warum haben Sie klein beigegeben?

Erziehungswissenschaftler sagen auch, dass man die Klassenwiederholung nicht ersatzlos streichen darf, sondern durch andere Maßnahmen ersetzen muss. Die Öffentlichkeit hat unsere Idee leider missverstanden und abgelehnt. Positiv ist: Wir hatten eine tiefere Diskussion über das Sitzenbleiben. Künftig werden schwache Schüler nicht mehr einfach eine Klasse wiederholen, sondern die Schule soll ihre Schwächen genau identifizieren und adäquate Förderangebote machen. Im Secondaire technique, der künftig Secondaire général heißen wird, sollen Schüler, die in Sprachen oder Mathe schwach sind, versetzt werden und dann, je nach Bedarf, Basis- oder Fortgeschrittenenkurse wahrnehmen. Sie müssen also nicht mehr das ganze Schuljahr wiederholen, sondern erhalten differenzierte Unterstützung. Das ist eine substanzielle Verbesserung, ...

... die einiges kosten dürfte: Die DNL fordert mehr Ressourcen, spezialisiertes Personal und für die Förderkurse kleinere Effektive.

Unsere Klasseneffektive sind im Vergleich zu den Nachbarländern nicht übermäßig klein und ich will sie sicher nicht anheben. Je nach Aktivität können kleinere Lerngruppen hilfreich sein, etwa bei intensivem Sprachentraining. Das müssen aber vielleicht nicht zehn Schüler pro Gruppe sein. Wichtig ist, dass die Schwächen individuell aufgearbeitet werden – und die Förderkurse von erfahrenen Lehrern gehalten werden.

Befürchtet die DNL da nicht mehr Bürokratisierung?

Sie hat sich zumindest so nicht geäußert. Wir haben viel über Förderung gesprochen ­–­­ und sehr viel über Noten und Versetzungskriterien.

Lösen eine verschärfte Versetzung und eine strengere Benotung die Probleme des Luxemburger Bildungssystems?

Sicher kann man einen Schüler, der drei Datzen hat, nicht einfach so durchgehen lassen. Deshalb ändern wir die Promotionskriterien. Aber an der Versetzungsschraube zu drehen, reicht nicht. Jedes Mal, wenn wir das taten, hat sich wenige Jahre später der Anteil an schwachen und starken Schüler wieder auf dem alten Niveau eingespielt. Die Schule und die Lehrer passen sich an. Wir müssen also stärker überlegen, wie wir Schüler unterstützen können, welche Methoden und Didaktik wir für die Heterogenität in unseren Klassen brauchen.

Die DNL akzeptiert prinzipiell unterschiedliche Sprachenniveaus und hat zugestimmt, die Alphabetisierung grundlegender zu diskutieren. Das ist eine Öffnung.

Über den Sprachenunterricht ist sicher nicht das letzte Wort gesprochen. Wir waren uns mit der Lehrerdelegation einig, dass Französisch und Deutsch in unserem Schulsystem einen Stellenwert haben, der weder dem einer Muttersprache noch einer Fremdsprache entspricht, sondern eher einer Langue seconde. Das ist jedoch ein didaktischer Begriff. Gerade in der Didaktik sind wir schwach, es gibt wenig Experten, die sich mit unserer speziellen Sprachsituation auskennen. Dass wir dort massiv investieren müssen, darin sind wir uns ebenfalls einig. Dazu brauchen wir allerdings motivierte Lehrer, die sich in der mehrsprachigen Didaktik engagieren. Das ist kein Vorwurf an die Lehrer. Unser System ist komplex und wegen des Bevölkerungswandels können wir die Schule nicht mehr so organisieren wie in den Fünfzigerjahren.

Reicht das denn? In der Grundschule nimmt der Anteil jener Schüler, die zuhause kein Luxemburgisch sprechen, stetig zu. Und die Sprachleistungen, das zeigen die Épreuves standardisées, werden nicht besser.

Wir brauchen eine grundlegende Überlegung, wann wir wie welche Sprache unterrichten. In der politischen Diskussion ebenso wie in der öffentlichen Meinung melden sich Stimmen zu Wort, die das Luxemburger Schulsystem erfolgreich durchlaufen haben. Sie verstehen nicht, warum das für die heutige Schülerpopulation so nicht mehr funktioniert. Deshalb müssen wir überlegen, wie wir den Sprachenunterricht gestalten. Ohne dass wir die Mehrsprachigkeit in Frage stellen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Schüler, die unsere drei Landessprachen nicht gut sprechen, diese nicht innerhalb von sieben Jahren lernen können.

Es fällt auf, dass viele Änderungsvorschläge, die nun auf dem Tisch liegen, vor allem den Secondaire général betreffen.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Général und Classique besteht in den Sprachanforderungen. Ungefähr ein Drittel der Schüler erfüllt derzeit die Sprachkriterien für den Classique. Ihre Zahl wird schrumpfen, weil wir unsere heterogene Schülerschar nicht auf das Deutsch- und Französisch-Niveau bringen können, wie es das Classique verlangt. Darum bauen wir den ESG aus und bieten mehr Ausbildungen an, die nicht so hohe Sprachanforderungen stellen. Und darum brauchen wir im unteren Zyklus eine differenzierte Benotung, um den jeweiligen Berufsprofilen und Bildungswegen gerecht zu werden.

Auch der neue Classique wird stark von den Leistungen in den Sprachen abhängen – und damit weiter Schülern mit Migrationshintergrund und aus bildungsfernen den Zugang erschweren.

Der Classique bleibt mehr oder weniger so, wie er ist. Es ist mir aufgrund des großen Widerstands nicht gelungen, ihn zu öffnen. Der Ausbau des ESG ist vielleicht nicht die ideale Lösung, aber es ist der zweitbeste Weg. Ich sehe nicht ein, warum Kinder in Luxemburg nicht Arzt, Ingenieur oder Anwalt werden können, nur weil sie keine exzellenten Kenntnisse im Deutschen oder im Französischen haben. Während andere Kinder in Europa diese Berufe mit nur einer Sprache ergreifen.

Die DNL, und insbesondere die Lehrergewerkschaften, kritisieren, Sie, die Sozialistin, hätten das humanistische Bildungsideal verraten.

Ich bin nicht nur Sozialistin, sondern von meiner Ausbildung aus humanistisch. Daher verstehe ich den Vorwurf nicht. Ich habe immer darauf bestanden, dass die Abschlussprüfung eben keine Spezialisierung in einer Disziplin ist, sondern ein allgemeines Reifezeugnis, das den Zugang zu allen Hochschulstudien erlauben muss. Deshalb war ich so überrascht, von der DNL zu lesen, dass sich die oberen Klassen im EGC um die Spezialisierung herum aufbauen sollen. Das ist das Gegenteil dessen, was ich mit der Reform bezwecke. Ich möchte mehr Allgemeinbildung und weniger Spezialistentum. Ich bin also die falsche Adresse für diese Kritik. Sie müsste der DNL gelten.

Die Opposition wirft Ihnen vor, durch schwere handwerkliche Fehler, vor allem bei der Umsetzung der Berufsausbildung und der Grundschulreform, dazu beigetragen zu haben, dass „Reform“ geradezu ein Unwort wurde.

Die Bilanz der Grundschule ist positiver ausgefallen, als ich gedacht hatte, sieht man einmal von den Zeugnissen ab, die wahrscheinlich zu detailliert sind. Sie sollen ja jetzt mit Hilfe der Universität Luxemburg geändert werden.

Auch in der Berufsbildungsreform gibt es teils massive Probleme mit der Umsetzung.

Die Berufsausbildung wurde lange mit allen Partnern vorbereitet. Sie ist konzeptuell sehr gut, aber organisatorisch eine echte Herausforderung. Wir mussten mit begrenzten Ressourcen die Programme für über hundert Berufe neu schreiben. Da stoßen wir an Grenzen. Die neue Bewertung, die bedeutend strenger ist als das vorherige Verfahren, wird geändert. Es gibt auch viele zufriedene Stimmen. Man hört sie nur weniger.

Ihr Versprechen war, eine Reform aus einem Guss zu machen. Nach neun Jahren rot-schwarzer Bildungspolitik fallen jedoch zahlreiche Brüche und Widersprüche ins Auge: Zyklen etwa gibt es in der Grundschule, aber nicht auf der Sekundarstufe, bis zum vierten Zyklus wurden Noten abgeschafft, in der Sekundarstufe bleibt das 60-Punkte-System.

In der Politik ist nicht alles durchsetzbar, was man sich wünscht. Wir haben Sockel für die Zyklen, wir schreiben den Kompetenzansatz im unteren Zyklus des Sekundarunterrichts fort. Wir werden in den Grundschulen und in den Lyzeen dieselben Kompetenzen in den Sprachen und im Mathematikunterricht unterscheiden. Das ist kohärent. Ebenso wie die stärkere Zusammenarbeit bei den Lehrplänen und die engere Betreuung der Schüler. Vieles, was jetzt Gesetz werden soll, wird in den Schulen schon umgesetzt. Aber wir diskutieren auch schon seit einigen Jahren.

Nach so viel Diskutieren: Werden Sie für die LSAP noch einmal in die Parlamentswahlen gehen?

Entgegen manchen Unkenrufen bin ich nicht amtsmüde. Wenn mich die Partei braucht, dann stehe ich zur Verfügung.

Ines Kurschat
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