Auch in Luxemburg finden chirurgische Eingriffe an Übergewichtigen statt. Doch verbindliche Regeln dafür erlässt bisher allein die Sozialversicherung

Frag die Kasse!

d'Lëtzebuerger Land du 09.05.2014

Es ist 60 Jahre her, dass in den USA zwei Chirurgen in einem Patienten mit extremem Übergewicht einen Bypass im Darmtrakt legten und damit neun Zehntel des Dünndarms von Verdauungsvorgang ausschlossen. Mittlerweile gibt es andere Opera-tionstechniken, aber der Eingriff von damals gilt als die Geburtsstunde der „bariatrischen Chirurgie“: Mit Operationen soll eine schnelle und starke Reduktion des Körpergewichts erreicht werden, die am besten für immer anhält.

Wie die Dinge liegen, kann das auch klappen. Sowohl mit Techniken, bei denen der Magen „abgeschnürt“ wird, so dass er weniger Nahrungsmenge aufnehmen kann, als auch mit Bypässen zwischen Magen und Darm. Internationale Studien berichten, dass Pa-tienten im ersten Jahr nach einer solchen Operation zwischen 42 und 72 Prozent ihres „überschüssigen“ Körpergewichts verloren hätten, nach zwei Jahren sogar noch etwas mehr. Blutdruck-, Cholesterol- und Blutzuckerwerte verbessern sich zum Teil sogar gleich nach der OP. Eine vor zwei Jahren veröffentlichte Studie meldete, nach einem chirurgischen Eingriff an extrem Übergewichtigen mit Diabetes Typ 2 hätten sich, je nach Operationsverfahren, bei 75 bis 95 Prozent der Patienten die Blutzuckerwerte wieder normalisiert und die Einnahme von Insulin war nicht mehr nötig. In der Fachzeitschrift New England Journal of Medicine war am 26. April 2012 zu lesen, man sei zwar „noch nicht so weit“, dass eine Opera-tion das „Allheilmittel“ für Typ-2-Diabetiker mit starkem Übergewicht sein könne, denn Langzeitstudien seien noch „rar“. Womöglich aber sei die baria-trische Chirurgie nicht nur „der letzte Ausweg“, wenn alle anderen Therapien nicht angeschlagen haben.

Dass die bariatrische Chirurgie auch in Luxemburg von sich reden macht, ist kein Wunder. Nach Schätzungen des Centre de recherche public de la santé gibt es hierzulande um die 16 000 Typ-2-Dia-betiker, und Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) nannte es am 10. Januar gegenüber dem Land ein „Riesenproblem“ für die öffentliche Gesundheit, dass laut einer „neuen Studie 53 Prozent der Bevölkerung übergewichtig und fast 30 Prozent fettleibig“ sind.

Operiert wird in Luxemburg auch. In den 2000-er Jahren wurden um die 300 bariatrische Eingriffe jährlich bei der Krankenkassenunion UCM, die seit 2009 Caisse national de Santé heißt, abgerechnet. 2009 waren es sogar 396 und ein Jahr später 363. Bezogen auf 700 000 Krankenversicherte, Grenzpendler eingeschlossen, sieht das nach viel aus. Im deutschen Bundesland Baden-Württemberg, das zehn Millionen Einwohner hat, zählte die größte öffentliche Krankenkasse, die AOK, im Jahr 2010 unter ihren 3,6 Millionen Versicherten 290 solche OPs. Und ihr Vorstandschef meinte am 23. Mai 2011 gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt, man sei besorgt deswegen. Nicht aus Sparsamkeitsgründen, sondern um zu verhindern, „dass viel zu früh und unnötig zum Messer gegriffen wird, ohne andere Mittel zur dauerhaften Gewichtsreduktion auszuprobieren“.

Inwiefern in Luxemburg „zu früh“ oder „unnötig“ bariatrisch operiert wurde, kann niemand sagen. Daten über Patientenergebnisse, auch über Erfolge solcher Eingriffe und Fehlschläge alternativer Abnehm-Versuche, sind zumindest in für das ganze Land zentralisierter Form inexistent. Wer beim Gesundheitsministerium danach fragt, erhält eine bedauernde Antwort. Bei der CNS erzählt man hinter vorgehaltener Hand aber, „früher“ hätten „links und rechts“ bariatrische Eingriffe stattgefunden. „Früher“ war zwischen 1996 und 2011, als die einzige verbindliche Regelung zu solchen Operatio-nen in einem Beschluss der Generalversammlung der damaligen Krankenkassenunion vom Juli 1996 bestand: Nur für Patienten mit einem Body-Mass-Index von 40 oder mehr übernehme die Kasse die Behandlungskosten, und auch nur dann, wenn vor der Operation ein ärztlicher Bericht das Versagen aller anderen Therapien bescheinigt habe. Doch was genau in den Berichten stehen sollte, war nicht festgelegt. Wie zu hören ist, stand oft nicht viel drin. Und prinzipiell konnte jeder Arzt einen bariatrischen Eingriff verschreiben.

Gut möglich, dass dadurch das Entstehen eines Marktes gefördert wurde: Durch Bedarf in einer Bevölkerung mit vielen schwer Übergewichtigen, durch Krankenhäuser, die miteinander konkurrieren, und warum nicht auch durch Chirurgen, die gern eine Gastroplastie pour obésité pathologique abrechnen: Der Akt 2A62 ist einer der am besten dotierten im Kapitel Magen- und Darmchirurgie der ärztlichen Gebührenordnung. Zurzeit können dafür 972,30 Euro in Rechnung gestellt werden.

Doch wie gesagt: „Links und rechts“ soll „früher“ gewesen sein. Bei der CNS meint man, „es sieht so aus“, als liege es an den seit Neujahr 2012 geltenden neuen Regeln, dass in jenem Jahr nur noch 158 bariatrische OPs abgerechnet wurden. Die CNS orientiert sich seitdem an Empfehlungen der französischen Haute autorité de santé (HAS) und verlangt, dass eine „équipe multidisciplinaire“ in einem Krankenhaus mit einem „service en chirurgie bariatrique“ die betreffenden Patienten mindestens zwölf Monate lang bei alternativen Versuchen, abzunehmen, betreut und das „gut“ dokumentiert haben muss. Dem Team müssen ein Chirurg, ein Facharzt für Stoffwechselmedizin, ein Psychiater oder Psychologe und ein Ernährungsberater angehören. Seit Januar 2012 übernimmt die Kasse aber nicht nur die Kosten für eine Operation bei einem Body-Mass-Index von 40 oder mehr, sondern schon ab BMI 35, sofern eine Nebenerkrankung vorliegt. Bluthochdruck, Diabetes oder Atemaussetzer während des Schlafs kommen infrage, ab kommenden 1. Juni überdies auch schwere Stoffwechselstörungen und schwere Gelenkerkrankungen. Die CNS, könnte man folgern, hat die Operationen an schwer Übergewichtigen im Griff, so gut sie kann.

Oder doch nicht? Es fällt auf, dass weder das Gesundheitsministerium oder eine ihm unterstehende Behörde die Spielregeln festlegt, noch ein Fachgremium spezialisierter Chirurgen. Das muss nicht heißen, dass in den Krankenhäusern, wenn bariatrisch operiert wird, keine international anerkannten Behandlungsleitlinien respektiert würden. Schon um eventuellen Klagen wegen Behandlungsfehlern vorzubauen, dürfte das Gegenteil der Fall sein. Aber selbst der Conseil scientifique, ein von Gesundheits- und Sozialministerium gemeinsam getragenes Gremium, dem Mediziner aus der Praxis sowie Ärzte-Funktionäre aus den Ministe-rien angehören, erklärte in einer 2013 herausgegebenen Empfehlung für die Behandlung Übergewichtiger, man erinnere nur an die wichtigsten Aspekte der bariatrischen Chirurgie, äußere sich aber nicht zu „bonnes pratiques“. Für OPs an Übergewichtigen irgendeinen allgemeinen Rahmen zu setzen, ist damit allein Sache des Sozialstaats.

Solange der nicht an den Ausgaben für solche Operationen sparen zu müssen meint, muss es nicht schlecht sein, wenn lediglich die Gesundheitskasse in ihren Statuten Regeln festlegt und die im Kassenvorstand vertretenen Delegierten von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden darüber vorher mit dem ärztlichen Kon-trolldienst der Sozialversicherung beraten. Das bottom-up-Prinzip hat aber seine Grenzen. Als Kassenvorstand und Kontrollärzte vergangenen Monat zusammensaßen, diskutierten sie lange über die bariatrische Chirurgie. Und beinah hätten sie die seit 2012 strengeren Bestimmungen in einem Punkt wesentlich entschärft: Dass ein Pa-tient in einem Krankenhaus von einem „service en chirurgie bariatrique“ betreut werden soll, kann man eigentlich nicht verlangen. Denn ein solcher Dienst ist nirgendwo definiert; der alle fünf Jahre vom Gesundheitsminister erneuerte staatliche Plan hospitalier legt die Dienste viel allgemeiner fest.

Das ist bei weitem nicht nur eine technische oder bürokratische Frage, sondern auch eine der Behandlungsqualität. Im Ausland werden für baria-trische Eingriffe „Zentren“ definiert, zertifiziert und öffentlich bekannt gemacht. In der Schweiz zum Beispiel unterscheiden die Richtlinien zur operativen Behandlung von Übergewicht zwischen „Primärzentren“, in denen leichtere Fälle operiert werden, und „Referenzzentren“, die für „komplexe“ Angelegenheiten zuständig sind: Eingriffe an Jugendlichen, Personen über 65, Operationen an besonders schwer Fettleibigen mit einem BMI von über 50 sowie Eingriffe nach Komplikationen. Immerhin: Trotz aller Erfolgsmeldungen ist nach einer bariatrischen Operation nicht alles gut. Hält der operierte Patient sich nicht sein Leben lang an strenge Vorschriften für Ernährung und körperlicher Betätigung, droht ein Rückfall. Ganz gleich, ob er ein Magenband, einen Roux-en-Y-Bypass, eine biliopankreatische Diversion oder eine andere bauchchirurgische Finesse erhalten hat.

Vom Land kontaktierte Luxemburger Viszeralchirurgen beschreiben bariatrische Eingriffe als „schwer“. Vor allem, weil die Patienten wegen ihres Übergewichts „wirklich krank“ seien und ihr körperlicher Zustand die Operationen schwieriger mache. Und: Komplikationsfrei sind sie nicht. Studien zufolge muss beispielsweise durchschnittlich jeder fünfte Patient, der einen Magen-Bypass gelegt bekam, im ersten Jahr nach der Operation rehospitalisiert werden.

Was eigentlich dafür spricht, nicht nur zu definieren, was ein „service en chirurgie bariatrique“ sein soll, sondern die Behandlungen sogar zu zentralisieren. So etwas aber ist schon immer eine sehr politische Frage gewesen und ist es noch: Zwar werden mehr und mehr bariatrische OPs entweder im CHL oder im Süd-Klinikum Chem vorgenommen, die sich multidisziplinäre Teams gegeben haben, aber solche Informationen sind nicht öffentlich. Tatsächlich aber nahm von den insgesamt 396 Operationen im Jahr 2009 das CHL 213 vor, das Chem 137. Dass die CNS im April über die Streichung des „Service“ nachdachte, liegt daran, dass andere Spitäler ebenfalls Interesse an bariatrischen Eingriffen anmelden und die Erwähnung des Dienstes, den es eigentlich gar nicht gibt, in den Kassenstatuten stört.

Am Ende ließ der CNS-Vorstand den „service en chirurgie bariatrique“ aber stehen, wo er war. Damit sandte er ein politisches Signal an die Gesundheitsministerin, die derzeit den Entwurf ihres Vorgängers für den neuen Spitalplan überarbeiten lässt.

Denn falls dauerhaft viel weniger operiert wird als noch vor fünf Jahren, kann eine weitere Zersplitterung der Behandlungen nicht gut sein. Jede fünfte bariatrische OP sei „komplex“; zumindest diese Fälle sollten in CHL und Chem „konzentriert“ werden, hatte ein Consulting-Unternehmen aus Zürich in einem Bericht empfohlen, den Mutschs Vorgänger Mars Di Bartolomeo (LSAP) zur Vorbereitung des Spitalplans und zur Einrichtung von „Kompetenzzentren“ in den Luxemburger Spitälern bestellt hatte. Der Rapport Lenz ist zwar nicht nur unter Spitälern und Ärzten, sondern sogar im Ministerium umstritten. Aber was darin über die „Komplexität“ der OPs an schwer Übergewichtigen zu lesen ist, steht in den offiziellen Schweizer Richtlinien auch.

Doch Kompetenzzentren einzurichten, erfordert, mag es auch in der Gesundheitsreform von 2010 festgehalten und im Koalitionsvertrag aufgeführt sein, ähnlich viel politischen Mut wie die Definition von spezielleren „Services“. Die Spitalplan-Version Mars Di Bartolomeos habe keinen „service en chirurgie bariatrique“ enthalten, lässt Ministerin Mutsch auf Anfrage mitteilen. Dass der Plan, den sie ausarbeiten lässt und der bis zum Sommer vorliegen soll, „derart ins Detail geht“, sei „ebenfalls nicht zu erwarten“.

Wie es aussieht, blieben wichtige Fragen der Behandlungsqualität damit auch weiterhin Sache der So-zialversicherung. Aber vielleicht hat ja die CNS noch ein paar gute Ideen.

Peter Feist
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