Statt das Luxemburger Modell des nationalen Sozialdialogs wieder zu beleben, sieht es so aus, als ob die blau-rot-grüne Regierung eher mit der Junckerschen Bipartite fortfahren wollte

Nach den Totengräbern

d'Lëtzebuerger Land du 02.05.2014

In seiner Erklärung zur Lage der Nation Anfang April schlug Premier Xavier Bettel im Namen der Regierung etwas überraschend „den Sozialpartnern vor, noch vor dem Sommer ein globales Abkommen zu finden“, um die Anpassung beziehungsweise Nicht-Anpassung der Löhne und Renten an die Preissteigerung zu regeln, „diesmal ohne gesetzlichen Eingriff in den Indexmechanismus“.

Doch der Sommer beginnt schon Mitte nächsten Monats, der Sommerurlaub Mitte übernächsten Monats. Und bisher haben die Sozialpartner noch keine Ermunterung oder gar Einladung zu solchen Gesprächen erhalten, die erfahrungsgemäß schwierig und langwierig ausfallen.

Tatsächlich hatte es sich keine vier Monate zuvor noch ganz anders angehört. Denn während der Koalitionsverhandlungen hatten DP, LSAP und Grüne abgemacht, was sie schon im Wahlkampf angedeutet hatten: „Die Indexregelung, die bis nächstes Jahr gegolten hat, soll noch einmal wiederholt werden. Das heißt, nachdem der Zähler auf Null gestellt wurde, lassen wir nach 2015, wie bis jetzt, maximal eine Indextranche jährlich auszahlen.“

So jedenfalls der Premier in seiner Regierungserklärung, bevor er in seiner Erklärung zur Lage der Nation plötzlich bezweifelte, ob „das Fortschreiben der Indexmodulation“ tatsächlich „der beste Weg ist, um sowohl den Interessen der Lohnabhängigen wie der Unternehmer gerecht zu werden“. Deshalb warb er für „ein Abkommen, das der wirtschaftlichen Lage und der Preisentwicklung Rechnung trägt und den Betrieben wie den Beschäftigten eine Planungssicherheit liefert“.

Wirtschaftsminister Etienne Schneider hatte der LSAP-Basis schon im Voraus das neue Abkommen als großzügige Alternative zur Fortsetzung der gesetzlichen Indexmanipulation angekündigt. Auch wenn Bettel warnte: „Es ist dann auch klar für die Regierung, dass im Fall einer neuen Entgleisung der Inflation in Luxemburg oder im Fall, dass ein Abkommen nicht möglich ist, erneut ein Gesetz erlassen werden muss.“

Um so überraschender könnte es erscheinen, dass die Regierung seither keine Anstrengungen unternommen hat, um die Sozialpartner zu Gesprächen über das angestrebte Abkommen zu bewegen. Schließlich muss sie im Juli eine Entscheidung treffen, um bis zum Herbst der Europäischen Kommission zu melden, wie sie es mit dem Indexgesetz hält. Wobei sie schon ihren Haushaltsentwurf für 2015 wegen der vorgezogenen Wahlen mit Monaten Verspätung in Brüssel einreichen wird.

Fänden die angekündigten Gespräche tatsächlich statt, hätten Xavier Bettel und Etienne Schneider eine neue Bipartite erfunden. Bestand Jean-Claude Junckers Bipartite 2010 und 2012 darin, dass die Regierung in getrennten Gesprächen mit Unternehmern und Gewerkschaften verhandelte, so würde die neue Bipartite darauf hinauslaufen, dass die Regierung sich aus den Gesprächen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften herauszuhalten versuchte.

Den Sozialpartnern aber zu raten, doch unter sich einig zu werden, ist genau das, was die DP in ihrem Wahlprogramm der Vorgängerregierung vorwarf, nämlich „dass die Regierung ihren Gestaltungsspielraum ungenutzt ließ und ihre Rolle vornehmlich als Vermittler zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesehen hat. Sie hat es versäumt, die ‚Tripartite’ ernsthaft vorzubereiten und eine Führungsrolle zu übernehmen“.

Einstweilen sieht es aber so aus, als ob die Regierung eher mit der Junckerschen Bipartite fortfahren wolle. Sie hatte in den vergangenen Tagen nicht nur Unternehmer und Gewerkschafter, sondern sogar die einzelnen Gewerkschaften zu getrennten Gesprächen empfangen. Dabei sah der OGBL laut Präsident Jean-Claude Reding aufgrund der niedrigen Inflation selbst nach einer Mehrwertsteuererhöhung „keinen wirtschaftlichen Grund zu einer erneuten Amputation des Index“. Sollte es aber tatsächlich zu den von der Regierung vorgeschlagenen Gesprächen mit den Unternehmerverbänden komme, wolle der OGBL wohl hingehen, doch bleibe er bei seiner Position zum Index und sehe geringe Möglichkeiten zu einer Einigung.

Solange die Inflation so niedrig ist, dass ohnehin leidglich eine Indextranche pro Jahr fällig wird, sieht die Regierung keine Notwendigkeit, die gesetzliche Indexmanipulation fortzusetzen, auch wenn der Präsident der Handelskammer, Michel Wurth, vergangene Woche erneut die „völlige Desindexierung der Wirtschaft“ verlangte. Selbstverständlich würden die Unternehmer deshalb zu Gesprächen über ein Globalabkommen gehen, meint Michel Wurth, auch wenn sie bisher noch keine Einladung erhalten hätten.

Das größte Risiko aus der Sicht der Regierung ist, dass der Erdölpreis und damit die Inflation durch eine Eskalation der Krise in der Ukraine sprunghaft ansteigen. Für den Fall sucht sie das Einverständnis der Gewerkschaften zu Verhandlungen, mit denen eine zweite Indextranche pro Jahr verhindert werden soll. Das wäre der einzige Sinn eines Abkommens – denn um kein Gesetz zu machen, braucht die Regierung kaum das Einverständnis der Sozialpartner.

Doch damit stellt sich – ob „globales Abkommen“ unter Sozialpartnern, Tripartite oder Bipartite – die Frage nach dem Sozialdialog auf nationaler Ebene. So lange Sparen keine Priorität sein musste und der ausgeglichene Staatshaushalts nicht die Mutter aller Politiken war, wurden die gesamtgesellschaftlichen Verteilungskämpfe nicht, wie in anderen Ländern, auf der regennasse Straße ausgetragen, sondern zwischen Kronleuchtern und Gobelins im Außenministerium, wurde der Klassenkampf zur Tripartite sublimiert. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hatte aber seit 2008 die Verteilungskämpfe noch einmal verschärft und folglich fiel ihnen hierzulande die Tripartite als erste zum Opfer. Weil sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis verschoben hat, ist der Preis des sozialen Friedens drastisch gefallen. Statt der nationalen Solidarität legitimiert nun der Europäische Stabilitätspakt die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik.

„Das Luxemburger Sozialmodell ist kaputt“, klagte deshalb der damalige DP-Fraktionssprecher Xavier Bettel im Oktober 2010, als die Unternehmer nach der gescheiterten Tripartite vorübergehend den Wirtschafts- und Sozialrat sowie die Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung boykottierten. Bettels damaliger Parteipräsident, Claude Meisch, nannte „CSV und LSAP die Totengräber des Luxemburger Modells“.

Doch heute stellt sich die Frage, was DP, LSAP und Grüne noch anrichten wollen, wenn die Totengräber schon ihr Werk verrichtet haben, ob Xavier Bettel und Etienne Schneider tatsächlich für tot Erklärte wieder zum Leben erwecken können. Das hieße nämlich nach den in Vergessenheit geratenen Regeln aus der goldenen Zeit der Tripartite, dass der Staat notfalls auch bereit ist, etwas draufzulegen, damit keiner der Beteiligten bei einem Kompromiss leer ausgehen muss.

In ihrem Wahlprogramm hatte die DP vergangenes Jahr der CSV/LSAP-Regierung die Schuld am Hinscheiden des Luxemburger Modells gegeben: „Konsolidierungspolitik wurde in den vergangenen Jahren meistens hinter verschlossenen Türen diskutiert. Das Luxemburger Sozialmodell, das sich u.a. an der ‚Tripartite’ festmachen ließ, ist dabei an seine Grenzen gestoßen. Die Verhandlungspartner konnten sich nicht einmal auf eine gemeinsame finanzielle Analyse der Situation, geschweige denn auf die Eckpunkte eines Reformplans festlegen. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass die Regierung ihren Gestaltungsspielraum ungenutzt ließ und ihre Rolle vornehmlich als Vermittler zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesehen hat. Sie hat es versäumt, die ‚Tripartite’ ernsthaft vorzubereiten und eine Führungsrolle zu übernehmen. Vollständige finanz- und wirtschaftspolitische Analysen liegen bis heute nicht vor. An die Regierung ergangene Aufträge des Parlaments, beispielsweise um steuerpolitische Rechenmodelle vorzulegen, wurden nicht erfüllt. Ein konkreter politischer Fahrplan wurde mangels Einigkeit in der gescheiterten Koalition nie vorgelegt.“

Deshalb versprach nicht nur die DP, sondern auch die LSAP in ihrem Wahlprogramm: „Die LSAP bekennt sich darüber hinaus zu einem konstruktiven Sozialdialog als Garant und Sinnbild für den sozialen Frieden. Die Sozialisten werden den Tripartitegedanken aufrechterhalten und die Sozialpartnerschaft im Sinne eines dauerhaften Dialogs neu beleben. Die Abstimmung zwischen Sozialpartnern hat nicht nur in Krisenzeiten zu den Stärken des Luxemburger Modells gezählt. Die LSAP wird im Sinne der Arbeitnehmer und mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung dafür sorgen, dass der Sozialdialog weiterhin ein wesentlicher Standortvorteil bleibt.“ Nur die Grünen zeigten in ihren Wahlprogramm kein Interesse am Sozialdialog und der Tripartite, was sich wohl auch mit ihrer spezifischen Wahlklientel erklärt.

Doch anders noch als in der Regierungserklärung vor wenigen Monaten ging in der Erklärung zur Lage der Nation keine Rede mehr von der Tripartite. Überraschenderweise schien auch kaum jemand sie zu vermissen. Der LCGB ist weiterhin die einzige Gewerkschaft, die eine Tripartite verlangt. Die anderen Gewerkschaften scheinen sich keine Illusionen über die Erfolgsaussichten eines solchen Treffens zu machen.

Alle Sozialpartner scheinen sich einig zu sein, dass die Tripartite bestenfalls als reines Kriseninstrument überleben wird. Aber die Meinungen gehen auseinander, ob noch Krise herrscht. Für die Unternehmer und den LCGB ist der Krisenfall eindeutig gegeben. Finanzminister Pierre Gramegna schien vorige Woche bei der Vorstellung des aktualisierten Stabilitätsprogramms dagegen weit optimistischer. Offenbar können sich die Verhandlungspartner noch immer nicht auf eine gemeinsame finanzielle Analyse der Situa­tion festlegen, wie es so richtig im DP-Wahlprogramm hieß.

Romain Hilgert
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