Heute loben wir den neuen Nekro-Tourismus. Die Planer der Entente touristique de la Moselle haben ein großes Herz. 101 Jahre nach einem der größten maritimen Unfälle laden sie am 20. April 2013 stilgerecht zu einer gediegenen Trauerfeier auf ihr Renommierschiff Princesse Marie-Astrid. In der Presse wird der Ablauf der neuesten Touristenattraktion wie folgt beschrieben: „Bevor das Schiff die Anlegestelle um 19.30 Uhr verlässt, wird der Opfer der Titanic-Tragödie sowie deren Angehörigen gedacht. Die Schiffsglocke ertönt, und ein Blumenstrauß wird in die Mosel geworfen“ (Wort.lu, 05.04.2013).
Das ist natürlich schlicht ergreifend. Die lieben Moselmenschen halten die Erinnerung an 1 502 Tote wach, die nach der Kollision mit einem Eisberg aus den Trümmern der Titanic geborgen wurden. Ein derart massives Memento mori zu einem derart unglaublich späten Zeitpunkt, dazu noch in Grevenmacher, wo vermutlich nie und nimmer ein Eisberg vorbeigewandert ist, unterstreicht wieder einmal die solide, Generationen überdauernde, selbstlose Erinnerungskultur dieser weingetränkten Region. Oder sollte es um etwas ganz anderes gehen? Lesen wir kuriositätshalber doch einfach mal weiter: „Alsdann steht ein genussvoller und unterhaltsamer Abend ins Haus.“ Aha: Zuerst der Totensegen, dann der tolle Leichenschmaus! Naja, ein Gleitmittel der Kulinarik war das Flaggschiff der Moselaner ja schon immer.
Was da auf den schwankenden Tisch kommt, muss sich wahrhaftig nicht verstecken. Nämlich: „Das Titanic-Original-Menü der Ersten Klasse Passagiere“. Hier müssen wir leider anmerken, dass die glänzende Idee nicht im lokalen Weinberg des Herrn gewachsen ist. Sie kommt –wie alles Katastrophische- aus Deutschland. So brüstet sich beispielsweise das Essener Titanic-Museum-Germany, schon 1998 erstmals das Programm „Elf Gänge bis zum Untergang“ angeboten zu haben. Diese rabiate Rhetorik haben die Moselaner natürlich nicht abgekupfert. Sie versprechen lieber „Gaumenfreude pur!“ Jedem das Seine bitte. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und die Lebensfreude ist seine Gesellin aus Grevenmacher. „Ein fünfköpfiges Salonorchester spielt zeitgenössische Titanic-Musik. Natürlich darf das Tanzbein geschwungen werden.“ Für diesen elfgängigen Spaß blättert jeder Totenehrungs-Afficionado gern 116 Euro hin.
Wir wollen aber nicht gehässig sein, Bacchus bewahre! Denn diese spannende Trauer-Fresslust-Kombination eröffnet dem luxemburgischen Tourismussektor eine völlig neue Dimension. Es geht im Kern darum, den herrschenden Katastrophismus elegant zu umschiffen. Von allen Ländern der EU ist Luxemburg im Augenblick das meistgeprügelte und meistgeschmähte. Wir kriegen kaum noch Luft vor lauter sukzessiven Katastrophen. All diese hausgemachten Weltuntergangsszenarien haben einen entscheidenden Nachteil: Sie liegen alle noch vor uns, zwar ziemlich unmittelbar, aber immerhin noch irgendwie im Futur. Wie sollen wir also angesichts der drohenden Katastrophen unsere Identität so zum Ausdruck bringen, wie wir es seit Menschengedenken gewohnt sind: indem wir nationalbewusst exzessiv futtern bis zum Gehtnichtmehr? Da bleibt uns ja jeder Bissen im Halse stecken! Da fällt uns ja vor lauter vorauseilendem Bibbern die Gabel aus der Hand! Und der Weinkrug in den Schoß!
Das Raffinierte am „Titanic-Original-Menü der Ersten Klasse“ ist ja, dass die Katastrophe nachweislich schon hinter den fröhlichen Zechern und Gourmets liegt. Ein wahrhaft blendender Trick! Ursprünglich führte dieses Menü ja schnurstracks in den Orkus, aber heute dürfen wir uns munter gruseln und milde lächeln, weil am Ende der Expedition ja eben kein Eisberg auftauchen wird. Ein Feinschmeckerabend im Schatten der Katastrophe, aber völlig katastrophenfrei! Da können wir lustig frösteln und uns den virtuellen Angschtschweiß souverän abwischen. Es wird nichts Arges passieren, und trotzdem sind wir Original-Titanic-Trauergäste. Wir tun also etwas Gutes und Edles. Und wir kümmern uns um unsere ureigene Katharsis. Das ist ein vielversprechendes Modell für den künftigen Moseltourismus.
Wir freuen uns jetzt schon auf die nächsten grandiosen Einfälle der Entente touristique de la Moselle. Die nahe und ferne Geschichte steckt voller schiffsfahrttauglicher Katastrophen, man muss sie nur ausbuddeln und auf Marie-Astrid-Format zurechtstutzen. Natürlich sollte bei jeder Trauerfeier an der Grevenmacher Anlegestelle – wie es in den gottgefälligen Moselgefilden Sitte ist – ein katastrophengewandter Pfarrer zugegen sein. Er kann dann alles segnen, den Blumenstrauß und die Moselwellen, die Schiffsglocke und den Kapitän mit Trauermiene, die verirrten Möwen und die Sandbänke, die Passagiere und das Trauermenü. Vor allem das Menü. Damit wir mit Gottes Beistand weiterhin alle vergangenen und künftigen Katastrophen einfach wegfressen. Pardon. Das war ein bisschen grob. Jetzt aber richtig: Damit wir mit Gottes Beistand alle vergangenen und künftigen Katastrophen mit Kalorienbomben zunichte machen.