„Wenn sich jemand verletzen sollte: Wir haben noch Holzbeine, Augenklappen und Armhaken im Angebot“, ruft die schlechte Captain-Jack-Sparrow-Kopie mit dem roten Band im Haar breit grinsend. Der Oberpirat, der vor einer Gruppe Kinder die Piraten-Spielregeln erklärt, ist einer von 15 SNJ-Animateuren, die heute im Park in Colmar-Berg eine inklusive Ferienkolonie betreuen. Inklusiv, weil hier behinderte und nicht-behinderte Kinder zusammen spielen und auf Schatzsuche gehen.
„Seit einigen Jahren gibt es immer mehr gemischte Kolonien“, erzählt Anne Gantrel. Sie ist die Leiterin des dreitägigen Camps und eine von zwei Lehrbeauftragten des nationalen Jugenddienstes SNJ, die Wochenendseminare zum Thema Integration halten. Dort bekommen angehende Animateurem die es wünschen, Grundwissen über verschiedene Behinderungen vermittelt, aber auch Praktisches, etwa wie sie Kinder im Rollstuhl schonend und sicher heben können, wie man Windeln wechselt, was zu tun ist, wenn ein Kind einen epileptischen Anfall bekommt.
Vor jedem Start einer Kolonie findet ein Gespräch mit den Eltern des behinderten Kindes statt und mit dem Kind selbst. „So können wir uns besser auf individuelle Bedürfnisse einstellen“, sagt Gantrel. Heute ist ein Mädchen im Rollstuhl dabei, das über eine Sonde ernährt werden muss. „Die Eltern haben uns zuvor gezeigt, wie wir sie anbringen und was zu beachten ist.“ Die Animateure versuchen, „so offen wie möglich alle Fragen zu beantworten“, erzählt die Animateurin weiter. So werde das Kennenlernen zwischen behinderten und nicht-behinderten Kindern erleichtert, Hemmschwellen abgebaut. Und wenn ein Kind mal partout keine Lust hat, dann beschäftigt sich eine Betreuerin mit ihm, so wie mit Phillip (Name geändert). Er ist Autist und hat keine Lust, sich zu seinen Kollegen zu gesellen. So etwas geht, weil der Personalschlüssel eins zu eins beträgt.
Von solchen Bedingungen kann das Lehrpersonal in den meisten Schulen im Land allerdings nur träumen. Behinderte Kinder haben ein Recht auf inklusive Bildung. Das steht so nicht nur im Grundschulgesetz von 2009, sondern auch in der UN-Behindertenrechtskonvention, die Luxemburg 2007 unterschrieben hat. Und trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Eltern ihren behinderten Sohn oder Tochter in eine reguläre Schulklasse schicken – und sie nach einigen Monaten wieder frustriert herausnehmen, weil das Kind ihrer Meinung nach nicht angemessen betreut wird.
So auch Sabine Funk (Name geändert). Sie bestand von Anfang an darauf, ihr Kind in die Schule im Viertel zu schicken: „Studien zeigen, behinderte Kinder, die in die Regelschule gehen, lernen mehr. Außerdem sind die Nachbarskinder dort.“ Eine Zeit lang ging das gut. Die Klassenlehrerin war bemüht und obwohl sie von der seltenen genetischen Krankheit noch nie etwas gehört hatte, las sie sich in Fachliteratur ein. Gemeinsam mit der Inklusionskommission wurde ein Lehrplan erstellt, der auf das Mädchen, das zusätzlich stundenweise von einer Assistentin betreut wurde, zugeschnitten war. Dann aber wechselte das Mädchen den Zyklus und die neue Lehrerin fand, das Kind sei besser in einer Sonderschule der Éducation différenciée aufgehoben. Nur mit viel Beharrungsvermögen, Beschwerden beim Schulkomitee, Schreiben ans Inspektorat konnte die Tochter bleiben. Weil sie aber keine Lernfortschritte machte und bei Gruppenaktivtäten oft außen vor blieb, ließ sich die Mutter schweren Herzens schließlich doch umstimmen und schickt ihre Tochter ab dieser Rentrée zeitweise in die Édiff. Auch da klappt der Übergang nicht reibungslos: Statt wie ausgemacht, aufeinanderfolgende Tage zu organisieren, damit sich das Mädchen nicht immer wieder zwischen Schule und Édiff umgewöhnen muss, soll sie montags, mittwochs, freitags in die Sonderschule „Das war so nicht abgemacht“, sagt ihre Mutter verärgert. Sie überlegt, erneut Einspruch zu erheben.
Fälle wie diese gibt es laut der Behindertenorganisation Zesumme fir Inklusioun Asbl in Luxemburg viele. „Wir erleben immer wieder, dass Eltern, die ihr Kind regulär einschulen wollen, seitens des Lehrpersonals Druck gemacht bekommen, das Kind in die Édiff zu schicken“, sagt Martine Kirsch, Präsidentin der Behindertenorganisation, in der sich Lehrer und Eltern zusammengetan haben. Eine Mutter hatte ihren Sohn, der an Asperger-Autismus erkrankt ist, probeweise in eine Sonderschule gegeben, obwohl sie ihn lieber in die Regelschulklasse geschickt hätte: „Wirklich freiwillig war das nicht, aber mir und meinem Mann wurde bei einer Besichtigung rasch klar, dass die Schule nicht darauf eingestellt ist, Kinder wie unseren Sohn zu betreuen.“ Nach wenigen Tagen flatterte ihr ein Schreiben ins Haus, mit der Aufforderung, den Jungen verbindlich in die Édiff einzuschreiben. Die Mutter weigerte sich, einmal, zweimal. Zesummen fir Inklusioun rät Eltern deshalb, zu Beratungsgesprächen mit der Schule und der Édiff grundsätzlich zu zweit zu gehen. „Dann fühlt man sich nicht so ausgeliefert.“
Dabei hatte der Gesetzgeber mit der Grundschulreform die Commission d’inclusion scolaire als Organ vorgesehen, das helfen soll, die Inklusion voranzutreiben. Dort sitzen neben Inspektorat und Klassenlehrer Mitarbeiter des multiprofessionellen Teams und erstellen den individuellen Betreuungsplan, außerdem sind sie Kontaktstelle für die Eltern. Wie gut das übers Land klappt, welche Qualität die Förderprogramme haben, wie kontinuierlich sie fortgeführt werden, ob die bereit gestellten Mittel reichen, ist unklar: Es gibt kaum landesweite Erhebungen zur Inklusion. Und doch hören Eltern immer wieder, ihr Kind sei besser in der Édiff aufgehoben, stellen sich Lehrer mit dem Argument gegen Inklusion, sie seien nicht vorbereitet, es fehle an Zeit und Ressourcen.
Doch es gibt Schulen in Luxemburg, da lernen behinderte und nicht-behinderte Kinder zusammen – und es funktioniert. Die Jean-Jaurès-Schule in Esch-Alzette hat den Unterricht und andere Aktivitäten von vornherein inklusiv angelegt. Die Schule ist eine von mehreren Schulen in Europa, die an einem europäischen Forschungsprojekt teilgenommen hat, unter anderem mit der Uni Luxemburg, in dem es darum geht, inspirierende inklusive Praktiken zusammenzutragen, sie wissenschaftlich zu untersuchen und der (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein Video zeigt den Alltag der Escher Ganztagsschule und man muss sehr genau hinschauen, um Kinder mit Behinderungen auszumachen, weil im Grunde jedes Kind hier in seinem eigenen Rhythmus lernt. Auch wer Erzieher ist, wer persönliche Assistenz, wer Lehrerin wird nicht immer deutlich, weil alle zusammenarbeiten. Der Unterricht ist differenziert, durch Wochenlehrplan, durch individuelle Betreuung. Dass behinderte Kinder hinter einem Tuch abgesperrt für sich sitzen, um Schulkameraden nicht beim Lernen zu stören oder allein mit der Assistentin auf den Spielplatz gehen, weil es für sie kein Förderprogramm gibt, ist hier undenkbar. Hier wird im Team unterrichtet, so dass sich eine Lehrerin oder ein Erzieher auch einmal intensiver um ein Kind kümmern kann.
„Ja, es braucht Ressourcen, vor allem aber zählt der gute Willen aller Beteiligten“, nennt Justin Powell, Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Luxemburg, die wichtigste Bedingung, damit Inklusion gelingen kann. Gemeinsam mit Schülern und Lehrern sowie Filmemachern des Bildungsministeriums haben Powell und die Psychologin Michelle Brendel den Film konzeptualisiert. In Deutschland, das ebenfalls die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat und sich ähnlich schwer mit ihrer Umsetzung tut wie Luxemburg, wird in den Feuilletons kontrovers über die Machbarkeit von Inklusion diskutiert. Skeptiker fürchten sinkendes Lernniveau und schlechtere Noten, Befürworter halten mit – wissenschaftlich belegten – Lernfortschritten bei behinderten und nicht-behinderten Schüler dagegen.
„Es erfordert eine bestimmte Haltung, sich auf Inklusion einzulassen“, betont Michelle Brendel. Es gehe nicht nur darum, Rollstuhlrampen zu bauen oder behindertengerechte Toiletten einzurichten. „Inklusion stellt die Schulstruktur von Grund auf in Frage“, so Brendel. Der Spruch, der inzwischen in keiner Ministerrede mehr fehlt, die Schüler da abzuholen, wo sie stehen, und die Schule den Bedürfnissen der Kinder anzupassen und nicht umgekehrt, bedeutet, aber das sagt der Minister meist nicht, die Schule von Grund auf anders zu denken. Mit herkömmlichen Methoden und Lehrplänen ist es nicht getan. Egal, ob ein Schüler oder eine Schülerin behindert ist, ob verhaltensauffällig oder hochbegabt, alle diese Kinder lernen zusammen in gemeinsamen Klassen.
Damit das bei einer so heterogenen Schülerpopulation wie der hiesigen funktioniert, müssen Lehrer umdenken, sich stärker vernetzen, neue Wege gehen – auch wenn sie dafür nicht ausgebildet sind. Allein auf sich gestellt, ist das schwer möglich, aber gemeinsam mit Kollegen, im Team, könnten Räume und Zeit frei werden, die für individualisierte Betreuungsangebote genutzt werden können. In der Inklusion geht es nicht nur um Kinder, die im Rollstuhl sitzen, sondern auch um sprach- oder hörgeschädigte oder lernbehinderte Schüler, um Kinder mit unheilbaren Muskelerkrankungen oder tiefgreifenden Entwicklungsstörungen.
Deshalb die Einführung der Équipes multiprofessionelles, in der sich Psychomotoriker, Ergotherapeutinnen, Logopäden befinden: ein interdisziplinär zusammengesetztes Team geht dort in die Schule, wo seine Expertise gebraucht wird. Die Teams sollen künftig durch sonderpädagogisch geschulte Förderlehrkräfte verstärkt werden (siehe Seite 3). Aber zum einen waren die Ressourcen von Anfang an knapp bemessen, und selbst in diesen Teams, die bisher der Édiff unterstellt waren, herrschte oftmals ein Denken, das sich eher an medizinischen und oder psychologischen Diagnosen orientierte, statt nach pädagogischen Lösungen für den Einzelnen zu suchen. In einem leistungsorientierten Schulsystem, das Schüler nach Leistungsstarke und -schwache unterteilt, eisern einen Lehrplan verfolgt und so alle Schüler über einen Kamm schert, ist das nicht möglich. Das Grundschulgesetz sendet diesbezüglich widersprüchliche Botschaften: Einerseits sollen Kinder differenziert unterrichtet werden. Parallel sind individualisierte Angebote ausdrücklich möglich. Andererseits werden mit standardisierten Kompetenzsockeln, die jeder für die Versetzung in den nächsten Zyklus erreichen muss, und einer einheitlichen Bewertung, individuelle Lösungen erschwert, wenn nicht verhindert.
Dabei gibt es andere Unterrichtsmethoden und Bewertungsformen, wie etwa das Portfolio, mit der das Escher Lehrpersonal gute Erfahrungen gemacht hat. Die Mappe zeichnet Lernerfolge und Entwicklungen des jeweiligen Kindes nach. Jede Schülerin, ob sie nun langsamer lernt oder schneller, ob er spezielle Unterstützung erfährt oder nicht, hat ein Portfolio. Ein anderes Beispiel aus dem europäischen Teaching-Diversity-Projekt zeigt eine Schule in Spanien, die auf kooperative Lernformen setzt: Schüler lernen gemeinsam in Dreier- oder Vierer-Gruppen, in der mal die eine, mal der andere die Nase vorn hat und Aufgaben zusammen gelöst werden. Die Lehrer arbeiten in Teams, bereiten den Stoff gemeinsam vor und sprechen sich stets ab. Selbst Eltern von nicht-behinderten Kindern, die anfangs skeptisch waren, sagten später, ihr Kind habe durch die Diversität und das kooperative Lernen in der Klasse viel gelernt, nicht zuletzt Kompetenzen wie Solidarität, Teamarbeit und gemeinsames Problemlösen, die heute bei der Jobsuche immer wichtiger werden.