Nach Pisa ist vor Pisa. Nur dass auf die Präsentation der OECD-Bildungsstudie 2018 in Luxemburg bis zur nächsten Pisa-Pressekonferenz eine längere Pause folgt, nämlich sechs statt der üblichen drei Jahre. Das ändert nichts an der Ritualhaftigkeit, mit der die internationalen Leistungstests kommentiert werden. Alle Jahre wieder melden Medien erschrocken: Luxemburgs Schüler haben im internationalen Vergleich teils erhebliche Schwächen beim Lesen und Rechnen. Alle Jahre wieder werden als „Schuldige“ der hohe Anteil von Einwandererkindern ausgemacht und die Hürden des dreisprachigen Schulsystems, die bedeuten, dass viele Schüler die Fragebögen nicht in ihrer Muttersprache ausfüllen. Der Schulminister verspricht, die Bildungschancen für alle zu verbessern. Und danach? Business as usual.
Wie es aussieht, hat die Öffentlichkeit auch kein echtes Interesse daran, zu verstehen, warum der eigene Nachwuch beim Lesen und Rechnen auf Mittelmaß stagniert. Warum gelingt es Luxemburg nicht, wie etwa Irland und Polen, den Abwärtstrend zu stoppen und aufzuholen? Vielleicht liegt das an einem Blindfleck: Der Blick verharrt meist bei den SchülerInnen. Ihr Elternhaus, ihre Herkunft, ihre Sprache(n) stehen im Fokus. So gut wie nie ins Blickfeld genommen wird der Unterricht, ob angestrebte Bildungsziele erreicht werden, und die, die dafür verantwortlich sind – die LehrerInnen. Es gibt hier kaum Studien zur Qualität des Lehrens. Getestet wird allenfalls, wie kompetent Schüler in den Hauptfächern sind, aber wie sie am besten lernen, mit welchem Unterricht, ist eine black box.
Analysen zur Lehre fehlen, aber ebenso zur Lehrerschaft. Das letzte Mal, dass sich Bildungsforscher ausführlich mit Arbeitsbedingungen und Selbst- respektive Schulbild der Lehrer befassten, war im Rahmen der Umfrage Votre école et vous, die 2004 vom Service de coordination de la recherche et de l‘innovation pédagogiques et technologiques (Script) veranlasst wurde. Die Gewerkschaften weigerten sich an einer internationalen Studie zur Lehrerausbildung und Einstellungspraxis teilzunehmen. SEW-Lehrerumfragen im Secondaire sowie im Fondamental von 2019 ergaben viel Frust über die Bürokratie, über lange Entscheidungswege, über Helikoptereltern und sinkendem Respekt vor dem Lehrerberuf. Einschätzungen zum Unterricht und zur Aus- und Weiterbildung wurden nicht abgefragt; die Umfrage war nicht repräsentativ und hatte methodische Mängel.
Blackbox Klassensaal Inzwischen ist unübersehbar, dass im schulischen Kerngeschäft, dem Unterricht, etwas im Argen liegt. Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hatte 2008 mehr als 800 Meta-Analysen zum Lernerfolg analysiert und zu einer großen Synthese der empirischen Unterrichtsforschung zusammengeführt. Sein Fazit: Auf den guten Lehrer kommt es an. Viel zu viele Lehrer erklärten sich fehlende Lernfortschritte mit den Schwächen der Schüler, zu wenig Fleiß, der falschen Eignung oder der ungenügenden Unterstützung der Eltern statt die Fehler bei sich und seinem Unterricht zu suchen, so Hattie. Das heißt in der Folge: Defizite in der Lehreraus- und Weiterbildung beeinflussen die Qualität der Schulen und ihr Entwicklungspotenzial ebenfalls. Die Botschaft wurde in Luxemburg wohl verstanden; Konsequenzen wurden daraus weniger gezogen. Vielmehr läuft der Lehrerberuf Gefahr, ausgehöhlt zu werden.
Seit Jahren fehlen hierzulande Lehrer. Das gilt für die Sekundarstufe; das gilt erst recht für die Grundschulen. Von 4 474 Lehrern zur Rentrée 2019 im Secondaire waren 807 Lehrbeauftragte. Im Fondamental waren es 1 020 Ersatzlehrer. Also jeweils rund ein Fünftel, das nicht regulär ausgebildet ist und die Anforderungen des Berufs jedenfalls auf dem Papier nicht erfüllt. In der Grundschule ist die Personaldecke so dünn, dass der Minister vor zwei Jahren gar als Erfolg meldete, alle Grundschulzyklen im Land starteten mit einem Klassenlehrer.
Die Gründe für die Lehrernot sind vielschichtig. Seit 2010 ist die Schülerzahl von insgesamt 86 000 auf fast 150 000 Schüler im Jahr 2019/20 gestiegen. Seitdem die zuvor dreijährige Grundschullehrerausbildung auf vier Jahre Bachelor-Studium ausgedehnt wurde, dauert es länger, bis Lehrernachwuchs für die Grundschulen zur Verfügung steht. Durch die Spezialisierung wandern Lehrkräfte ab in Weiterbildungen, in Kompetenzzentren oder in die Regionaldirektionen. Sie fehlen in der Schule. Sowohl in den Grundschulen als auch auf der Sekundarstufe führt ein hoher Frauenanteil dazu, dass viele Lehrer halbtags arbeiten. Über das Profil der Lehreranwärter, die sich in Luxemburg und in Belgien auf ein Grundschulstudium bewerben, ist wenig bekannt. In der Regel übersteigt ihre Zahl die der Plätze. Immer mehr BewerberInnen scheitern am Zulassungsexamen; die meisten an den Sprachtests. Vor allem Französisch erweist sich als Hürde; eine Studie der Uni Luxemburg legte offen: Französisch ist das Fach, das viele am liebsten abwählen würden, wenn sie könnten. Wer die Korrekturen mancher Grundschullehrer sieht, stößt auf fehlerhaftes Französisch (oder sogar Deutsch). Wie sollen die Schüler da korrekt sprechen und schreiben lernen?
Minister Claude Meisch hat die Verantwortlichen des erziehungswissenschaftlichen Bachelors aufgefordert, neue Inhalte ins Curriculum aufzunehmen, wie Coding oder Sexualaufklärung, und insgesamt mehr Grundschullehrer auszubilden. Seit 2017 gibt es die beschränkte Zulassung: Lehreranwärter, die die Sprachanforderungen bei der Einschreibung nicht erfüllen, können sie während des Studiums nachholen. Statistiken hierzu werden von der Uni aber nicht, wie von einer öffentlich finanzierten Einrichtung zu erwarten, systematisch offengelegt; eine Land-Anfrage, wie viele zum Studium trotz ungenügender Sprachkenntnisse zugelassen wurden, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Quereinsteiger sollen’s richten Weil auch diese Lockerung nicht ausreicht, die große Nachfrage an Grundschullehrern zu decken, öffnete Meisch 2018 den Beruf für Quereinsteiger, 183 waren es allein im Jahr 2019 und 237 im Juli 2018. Sie müssen einen Bachelor in einem schulverwandten Fach haben und daneben eine Weiterbildung von 246 Stunden besuchen. Die Lehrergewerkschaft SNE hatte der Öffnung zähneknirschend zugestimmt, mit der Forderung, sie auf drei Jahre zu begrenzen, der SEW war von vornherein dagegen. Im Gesetz stehen fünf Jahre.
Auf Quereinsteiger zurückzugreifen, ist keine Luxemburger Erfindung. In Deutschland müssen sie einen zweiwöchigen Crash-Kurs belegen, um danach voll in die Unterrichtsversorgung eingebunden zu werden. Inzwischen mehren sich kritische Stimmen, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands spricht gar vom „völligen Versagen“ und einem „Verbrechen an den Kindern.“ Deutschlands Schülerleistungen sind bei Pisa 2018 abgerutscht, das zweite Mal in Folge. In Luxemburg ist unklar, welche Auswirkungen die gelockerten Zugangsbedingungen auf den Unterricht und die Schulqualität haben werden oder bereits haben. Lex Folscheid, Erster Regierungsberater und rechte Hand des Ministers, unterstrich in einem Interview: QuereinsteigerInnen mit Bachelor seien besser ausgebildet als viele Lehrbeauftragten, die eine Première haben.
Doch Quereinsteiger sind keine ausgebildeten Pädagogen und werden trotzdem mit 20 Stunden sofort im Unterricht voll eingesetzt. Manch einer findet sich vor einer Klasse einer Brennpunktschule nahe dem Bahnhof wieder – ohne die pädagogischen und diagnostischen Kenntnisse, um Lernschwächen zu erkennen und ihnen sinnvoll zu begegnen. Am Weiterbildungsinstitut Ifen in Walferdingen zählen Kurse zur Gestion de classe zu den gefragtesten, berichten vom Land kontaktierte QuereinsteigerInnen. Zugleich erklingt Kritik, Kurse seien praxisfern, respektive Dozenten würden Aufgaben stellen, die nicht zu lösen seien, etwa Unterrichtsstunden zu planen und kritisch zu diskutieren, weil ihnen das nötige Werkzeug noch fehlt. „Wir werden ins kalte Wasser geworfen und müssen dann sehen, wie wir zurechtkommen“, beschreibt eine Quereinsteigerin den täglichen Stress. Weil ihnen Praxis fehlt, halten sie sich an dem fest, was sie bereits kennen: einen Unterricht, wie sie ihn selbst als Schüler erlebt haben. Lehrbeauftragte im Secondaire berichten von ähnlichen Erfahrungen.
Das wirkt sich auf die Qualität des Unterrichts aus. Pädagogische Erneuerung und Entwicklung sind schwierig, wenn nicht unmöglich, wenn angehende – und etablierte – Lehrer durch bestehende Strukturen, wie überfrachtete Lehrpläne, 50-Minuten-Stunden, Noten, Prüfungen und vor allem Zeitdruck quasi dazu gezwungen werden, das zu wiederholen und fortzusetzen, was Generationen von Lehrern vor ihnen bereits (mehr oder weniger richtig) gemacht haben. Hinzu kommt: Die Klassen waren noch nie so heterogen wie heute, und die Digitalisierung verlangt ebenfalls um- und dazuzulernen.
Zur Wiederholung verdammt Da können Uni und Ifen noch so sehr den reflexiven Lehrer beschwören – wenn keine Zeit ist, sich und die eigene Praxis zu hinterfragen, herauszufinden, wie in heterogenen Klassen jede/r bestmöglich gefördert werden kann, weil man direkt voll unterrichten muss und deshalb vor allem darauf bedacht ist, nicht selbst den Boden unter den Füßen zu verlieren, bleibt das ein hehrer Anspruch. An vielen Schulen herrscht der klassische Frontalunterricht vor; Ansätze wie autonomes und differenzierendes Lernen oder Peer-Teaching gelangen nur langsam in die Schulen.
Angehenden Lehrern ist daraus kein Vorwurf zu machen. Sie sind Produkt eines Systems, das so schwerfällig und beharrlich ist und zugleich aufgrund der demografischen Entwicklung unter enormem Druck steht. Die einzig mögliche Öffnung, um den systembedingten Zwang zur Wiederholung aufzubrechen oder wenigstens zu lockern, sind mutige durchsetzungsfähige Lehrer und Direktionen oder neue Schulen, die anders unterrichten. So erklärt sich vielleicht die nicht nur in Luxemburg zu beobachtende Flucht zu alternativen Anbietern, seien das Privatschulen oder so genannte freie Träger.
In Luxemburg setzt der Minister auf das Europaschulmodell für die öffentliche Schule. Gegenüber Radio RTL sagte Claude Meisch angesichts Pisa, er sei optimistisch, in einigen Jahren würden sich erste positive Effekte seines erweiterten Schul- und Sprachenangebots zeigen. Belege, die Anlass zu solchem Optimismus geben, hat er aber keine vorgelegt. Dass SchülerInnen der Europaschulen bei Pisa signifikant besser abschneiden, wird seit Jahren kolportiert. Er wäre nicht erstaunlich: Weil der soziale Hintergrund eine Determinante für den schulischen Erfolg darstellt, sind die Europaschulen im Vorteil. Ihre Schüler stammen typischerweise von wohlhabenden Eltern, die in EU-Institutionen arbeiten. Inwiefern auch Schüler der öffentlichen internationalen Schulen besser lesen und rechnen können, lässt sich nicht sagen; das Ministerium hält die Ergebnisse unter Verschluss. Was aber, wenn doch John Hattie richtig liegt: Ihm zufolge zeigen sich die größten Unterschiede beim Lernzuwachs nicht zwischen Schulen, sondern zwischen einzelnen Klassen, und das bedeutet: zwischen einzelnen Lehrern.
Das ließe sich herausfinden, würden in Luxemburg systematisch best teaching practises sowohl im Fondamental als auch im Secondaire analysiert und veröffentlicht. Aber weil niemand wissen darf, welche Schulen und welche Klassen die besseren Ergebnisse erzielen, tappen die Lehrer und die Gesellschaft im Dunkeln. Damit bleibt dem Schulsystem eine tiefgründige Reflexion verwehrt. Direktionen berichteten dem Land, seit einigen Jahren keinen Rapport Lycée mehr zu bekommen. Er enthielt Daten zur Schülerschaft und Klassenleistung und war vom Ministerium ursprünglich für eine empirisch gestützte Schulentwicklung eingeführt worden.
Bye, bye, Regelschule? Ob das Bildungsobservatorium neue Erkenntnisse bringen kann, bleibt abzuwarten. Das Ministerium hat Maßnahmen auf den Weg gebracht, die auch beim Unterricht ansetzen: Es hat den Sekundarschulen per Gesetz mehr Autonomie eingeräumt, das Script wurde professionalisiert mit Fachabteilungen zur pädagogischen Entwicklung, für die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien, zur Lernplan- und Schulentwicklung. Insbesondere hat Claude Meisch die Weiterbildung der Lehrer ausgebaut und das Ifen personell verstärkt. Nur: Reichen diese Änderungen aus, beziehungsweise, setzen sie am richtigen Punkt an, um die Schulen auf die Herausforderungen der neuen Dekade vorzubereiten? Die Jungen und Mädchen, die zur Rentrée 2019 eingeschult wurden, kommen frühestens in 15, 20 Jahren auf den Arbeitsmarkt. Was für Fertigkeiten benötigen sie, um im globalen Wettbewerb zu überstehen? Damit ist nicht gemeint, nur in Leistungstests besser abzuschneiden oder in einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft zu bestehen. Schulabgänger von morgen müssen sich in der Informationsflut zurechtfinden, sowie gesellschaftliche Phänomene und Probleme wie die Klima-Krise, die Digitalisierung oder die Erosion der Demokratie, kritisch analysieren und an Lösungen mitarbeiten können.
Luxemburgs Schulen vermitteln Kindern und Jugendlichen nach wie vor vorrangig Wissen zum Auswendiglernen und vorgegebene Fertigkeiten. Wo im Lehrplan stellt die Schule sicher, dass Schülerinnen und Schüler lernen, innovativ mit dem nötigen methodischen Handwerkszeug an komplexe Probleme heranzugehen, die wir heute nicht einmal kennen, in einer Welt, die so rasant ändert? Und dass sie nicht, wie in einer Endlosschleife, einem Loop, Lehrer – und in der Folge auch Schüler – dazu verdammt, alte Rezepte, einstudierte Reflexe und überholte Lösungen wie zwanghaft zu wiederholen und somit den Anschluss an die Zukunft zu verpassen?