Die neutrale Schweiz – eine demokratische Insel, heldenhaft verteidigt von Volk und Armee? Oder nur deshalb von den Nazis verschont, weil man nicht die eigene Bank überfällt? Die Eidgenossen hadern bis heute mit der Rolle ihres Landes während des Nationalsozialismus. Vor 75 Jahren endete in Europa der Zweite Weltkrieg. Zu diesem Anlass erinnert eine Ausstellung im Historischen Museum Basel an die vielschichtigen Beziehungen der Schweiz zu „Großdeutschland“: Exemplarische Geschichten und Schicksale von 47 Menschen aus der Grenzregion am Rheinknie berichten von Angst und Anpassung, Profit und Widerstand.
Basel ist ein Schweizer Brückenkopf in Deutschland. Und umgekehrt: Die Bahnlinie quer durch Basels Norden ist deutsches Territorium. Anders als im Ersten wurde sie im Zweiten Weltkrieg nicht geschlossen. Vom Badischen Bahnhof aus fuhren an die 200 Schweizer freiwillig mit der Waffen-SS an die Front. Allerdings errichtete die Schweizer Armee an den Zufahrtsstraßen Barrikaden, denn sie fürchtete, die deutsche Wehrmacht könnte die riesigen Keller und Tunnel unter dem Bahnhof zum Einmarsch nutzen. Die meisten Schweizer Soldaten verschanzten sich jedoch fernab im Alpen-Réduit und überließen Basel als „offene Stadt“ sich selbst. Als nebenan das Elsass besetzt wurde, flüchteten auch Tausende Schweizer voller Panik vom Rhein ins Landesinnere.
Von den rund 20 000 Deutschen, die damals in Basel lebten, waren auf dem Höhepunkt etwa 4 000 Mitglieder von Hitler-Jugend, NS-Frauenschaft und anderen Nazi-Organisationen, diezunächst im Badischen Bahnhof residierten. Als sie dort am Turm die Hakenkreuzflagge hissten, versuchten Kommunisten, die Grenzstation zu stürmen – wurden aber von der Schweizer Polizei aufgehalten. Im sozialdemokratisch dominierten Basel wurden dann kommunistische und diverse rechtsextreme Vereine verboten. Die Hitler-Partei selbst blieb aber bis zum Schluss unbehelligt: Das „Deutsche Heim“ der NSDAP-Ortsgruppe wurde erst am 8. Mai 1945 geschlossen. Um die übermächtigen Nachbarn nicht zu provozieren, nahm vor Kriegsende sogar die Basler Fasnacht tunlichst Abstand von antigermanischen Witzen.
Viele Basler Unternehmen waren vom deutschen Markt abhängig. Eiligst erklärte sich die Reederei Neptun für „judenfrei“, um weiter den Rhein befahren zu dürfen. Banken und Kunsthändler halfen den Nazis beim Verkauf von Raubgut. Anstandslos zahlte die Basler Versicherung den deutschen Behörden die Einlagen jüdischer Kunden aus, als diese ab 1936 enteignet wurden. Die Basler Chemieindustrie wurde von Deutschland als „kriegswichtig“ eingestuft - und das nicht nur, weil Geigy die rote Farbe für die Nazi-Fahnen produzierte. Zuweilen durften die Lieferungen aber nicht verwechselt werden: Eine Seidenfirma fertigte gleichzeitig Fallschirme für die Wehrmacht und patriotische Bilder für die „geistige Landesverteidigung“ der Schweiz.
Widersprüchlich war besonders der Umgang mit Flüchtlingen. Die Schweiz nahm während der Nazi-Zeit fast 300 000 Emigranten auf. Staatliche Stellen weigerten sich, Deutschland beim Abzäunen der Grenzwälder zu helfen. Die Israelitische Gemeinde Basels unternahm große Anstrengungen, um zum Beispiel ungarische Juden freizukaufen. Andererseits wurden von Mitte 1942 bis 1944 Helvetiens Grenzen für „Flüchtlinge nur aus Rassegründen, zum Beispiel Juden“ geschlossen: Über 25 000 Schutzsuchende wurden abgewiesen, obwohl die Schweizer Behörden über die deutschen Vernichtungslager Bescheid wussten.
Unbeeindruckt vom Weltkrieg drängte die eidgenössische Polizei alle „Fremden“ zurascher Weiterreise. Flüchtlinge durften nicht in Gruppen von mehr als drei Personen auf die Straßen gehen, Wirtschaften mit Alkoholausschank aufsuchen oder anderweitig den Einheimischen zu nahe kommen. Gesunde männliche Asylanten wurden in Arbeitslagern interniert und auf Baustellen oder Bauernhöfen beschäftigt. „Insgesamt war die Schweizer Flüchtlingspolitik fremden- und judenfeindlich“, findet Patrick Moser, der Kurator der Ausstellung.
Das Historische Museum Basel möchte nicht nur „zum Nachdenken über die Vergangenheit anregen“, sondern „auch dazu animieren, das eigene Tun und Handeln zu reflektieren und zu verstehen, wie fragil Menschenrechte, Solidarität und demokratische Freiheiten sind“. Bislang scheint dieses Angebot etwas einseitig angenommen zu werden: Auf Zettelwänden am Schluss der Ausstellung kommentieren Besucher rege die aktuelle Einwanderungspolitik – gar nicht dagegen zum Beispiel den neuen Chemie-Riesen „Syngenta Group“, den chinesische Staatskonzerne gerade in Basel gründen. Geschäfte mit Diktaturen sind möglicherweise auch heute etwas heikel.