Next step von Anne Schiltz rekonstruiert das Werk von Michel Majerus. Durch Zitate von Freunden, Kollegen und Angehörigen gibt der Film Einblick in Majerus’ vielschichtige Arbeiten, dahinter scheint die Person durch

Ein Virtuose von Farben

d'Lëtzebuerger Land du 09.07.2021

„Ein Spaziergang durch einen Supermarkt hat für ihn viel mehr ästhetische Reize ausgelöst als ein Spaziergang durch die Natur“, erinnert sich ein Freund. Überall habe er Logos, Schriftzüge oder Marken entdeckt, die ihn inspirierten. Das Berlin der 90er Jahre nach der „Wende“ war ein Tummelplatz für Kreative und für Michel Majerus somit der perfekte Ort. „Ein Paradies für Künstler, es stand unheimlich viel leer“, so Galerist Riemschneider. Hinzu kam die Clubkultur: „Wie im Schleudergang in der Waschmaschine.“

1999 nahm Majerus an der Kunstbiennale in Venedig teil. Für seine collagierte Malerei verwendete er gedeckte Farben, poppige Marken, die er Formen, Slogans und Comic-Figuren entnahm, Motive aus der Konsumwelt wie eine zerknitterte Baumarkt-Tüte oder eine Smarties-Schachtel, aber auch Materialien wie Asphalt. Plakative Sprüche in LED-Schrift waren charakteristisch für sein Werk: „Fuck the intention of the artist“ stand auf der Oberfläche einer Halfpipe, sein mit 455 Quadratmetern in der Fläche größtes und erstmals dreidimensionales Kunstwerk. Bewusst zitierte er Heroen der Pop Art wie Andy Warhol oder Jean-Michel Basquiat.

Michel Majerus starb 2002 bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg von Berlin nach Luxemburg – mit 35 Jahren. Wie porträtiert man einen Künstler, der in Luxemburg zweifellos einer der bedeutendsten des letzten Jahrhunderts war, ein umfangreiches Werk hinterlassen hat und auf dem Höhepunkt seines Schaffens verunglückte?

Die Filmemacherin Anne Schiltz wählte eine Art der Annäherung, die nicht effektheischend ist, indem sie Freunde, Arbeitskollegen und Angehörige interviewt hat und deren Aussagen für sich sprechen lässt. So entstand komplementär zu dem in Next Step gezeigten Werk und einigen Aufnahmen, die Majerus bei der Installation seiner großformatigen Gemälde zeigen, ein vielschichtiges Bild einer bescheidenen Persönlichkeit, die den Trubel mied, aber genau wusste, was sie erschaffen wollte. Wo seine großen Bilder aufzuhängen seien? „Im MoMA oder im Museum Ludwig. Da gibt es ja große Wände“, antwortete er.

Vor fünfeinhalb Jahren übernahm Anne Schiltz das Doku-Projekt von Paul Kieffer. Da stand schon fest, dass es von Samsa Film produziert würde. An der Idee und der Vorrecherche Kieffers anknüpfend, nahm Schiltz Kontakt mit der Stiftung Michel Majerus Estate auf, die ihr und Samsa den Großteil des Archivmaterials zur Verfügung stellte. Der erste Drehtag war im Januar 2016.

Der knapp einstündige Film lebt von Farben, den Techno-Beats aus Clubs und Aufnahmen von Berlin: Eine Einstellung zu Beginn zeigt Michel Majerus auf einer Parkbank sitzend mit Nike-Turnschuhen beim Aufzeichnen von Ideen. In den ersten Minuten des Films ist eine Montage seiner Bilder zu sehen. „Michel war ein Virtuose von Farben“, erinnert sich ein Freund, der selbst beim Mischen von Farben gezeigt wird, „es musste immer etwas heller sein.“ Nach seinem Tod wurden seine Farbtöne archiviert. In den Bildern seines Nachlasses entdecke man immer wieder Neues, so der Freund „Wawa“ (Wawrzyniec Tokarski). Etwa ein Picasso-Bild schwarz auf dem Kopf gemalt. „Er hat sich tatsächlich darauf konzentriert, etwas Bleibendes zur Kunstgeschichte beizutragen.“

Michel Majerus jagte nicht dem letzten Trend hinterher, sondern nutzte die „neuen Technologien“ experimentierfreudig. Er filmte mit Handy-Cams oder arbeitete mit dem Diaprojektor, bemalte Folien. Malen nach Zahlen: Interessant ist diese Art von Automatismus, die sich daraus ergeben hat, wie er Reproduzierbarkeit schuf.

Majerus war ein euphorischer Künstler, vernarrt in die Kunst. „Er hat für mich sowas Bilderstürmerisches“, erinnert sich einer seiner Galeristen, habe er doch verinnerlicht, dass man etwas zerstören muss, um etwas Neues zu schaffen. In Analogie zu Beuys habe Majerus selbst zum Logo werden wollen. Sein Assistent fand eine seiner ersten Arbeiten hingegen schlicht nichtssagend. Die Zeichnung für einen Freund versah Majerus mit der Widmung: „Sei nicht traurig, die 90er sind bald vorbei.“

Ein Ausschnitt aus einem der wenigen Interviews, die er gab, zeigt ihn 1999 auf dem Werkgelände der Biennale, wie er auf Englisch seine Ideen erklärt, die Außenfassade des italienischen Pavillons zu bespielen. Er schaute sich zunächst an, wann der Pavillon gebaut wurde und was die Struktur ursprünglich aussagte. Unter dem Titel „Sun in 10 different directions“ schuf er eine Text-Bild-Collage: „Hier hoch ein Schriftband – und da irgendwie rüber ... Da vielleicht Katzenkopf!“

Im Film erklingen die Namen der Orte, in denen seine Werke gezeigt werden: Kunsthaus Graz, Stedelijk Museum in Amsterdam, die Hamburger Deichtorhallen oder das Kunstmuseum Stuttgart. Seine Ideen übertrug Majerus zehn Jahre lang in A5-Notizhefte. Es waren „Gedankenstützen“, aber auch „Überlegungen“ zur Kunstgeschichte. Am Ende sieht man ihn wieder auf der Parkbank sitzend, über einem dieser Hefte arbeitend. Er steht auf und springt aus dem Bild. Schiltz’ Dokumentarfilm ist eine stille Hommage an den luxemburgischen Ausnahmekünstler.

Michel Majerus, Next Step (59 Minuten): Ein Film von Anne Schiltz, produziert von Anne Schroeder (Samsa Film mit Unterstützung des Film Fund). Deutsch mit englischen Untertiteln. Nächste Vorführungen: 9. Juli um 19 Uhr im Ciné Scala in Diekirch; 15. Juli um 20 Uhr im Kinoler in Kahler; 19. Juli um 19 Uhr im Kulturhuef in Grevenmacher.

Anina Valle Thiele
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