Als Sandrines Tochter Jessica* ein Baby und später Kleinkind war, habe sie stets in die Luft geschaut. Ein Spielzeug oder Objekt, das man ihr in die Hand gab, beachtete sie kaum, warf es nach kurzer Zeit weg. Sie habe ständig Stimulation gebraucht und habe geweint, wenn sie diese nicht bekam. Als sie in die Schule kam, war das Feedback des Lehrers im Bichelchen fast immer negativ. Oft hieß es: Jessica hat sich geweigert, mitzuarbeiten. Die schulische Leistung litt. Irgendwann im dritten Schuljahr beschlossen Sandrine und ihr Mann, sich Hilfe zu holen. Ein langer Prozess, der Besuche bei Lehrern, Psychologen und Kinderärzten beinhaltete, und an dessen Ende die Diagnose ADHS stand. Sie brachte gemischte Gefühle, allen voran eine große Portion Erleichterung. Jessica ist seit diesem Schuljahr am Lyzeum und nimmt zweimal täglich eine Pille Ritalin – außer in den Schulferien. Sie habe nun mehr Spaß am Lernen, bessere Noten und sei zuhause gesprächiger, berichtet ihre Mutter.
Das psychiatrische Diagnostiksystem DSM definiert ADHS als neurologische Entwicklungsstörung, bei der Symptome wie Konzentrationsschwäche und Unaufmerksamkeit auftreten, die Kinder und Erwachsene beim Lernen oder alltäglichen Aufgaben einschränken. Das Aufmerksamkeitsdefizit kann mit oder ohne Hyperaktivität auftreten. Ist Letztere präsent, äußert sich das beispielsweise im Nicht-Still-Sitzen-Können und in Schwierigkeiten, abzuwarten. Impulsivität, also geringe emotionale Kontrolle und Regulierung, kann ebenfalls dazugehören. ADHS tritt meist im Kindesalter auf – etwa die Hälfte der Aufmerksamkeitsstörungen bleiben ins Erwachsenenalter hinein bestehen, teilt das Gesundheitsministerium mit. Lange Zeit war es der klischeehafte Zappelphilipp, dessen Hibbeligkeit die Klasse störte und der als hyperaktiv eingestuft wurde, der als Sinnbild für ADHS galt. Mädchen, die öfter ADS (ohne Hyperaktivität) vorweisen, wurden mitunter vergessen, da sie als verträumte Schülerinnen in der letzten Bank weniger auffielen. Obwohl es nicht „heilbar“ ist, können die Symptome sich über die Lebensspanne verändern. Das Verhalten muss dauerhaft bestehen, also nicht nur im Elternhaus oder dem schulischen Umfeld zu beobachten sein, um eine Diagnose zu stellen. Die Behandlungsmöglichkeiten sind Therapie und Medikamente; seit knapp einem Jahr wird die Behandlung integral von der Krankenkasse erstattet.
Daten zu ADHS-Diagnosen gibt es in Luxemburg in dieser Form nicht. Das liegt nicht nur an der insgesamt noch rückständigen Datenerhebung allgemein, sondern auch daran, dass manche Menschen nicht behandelt werden und sich irgendwie mit ihren Symptomen arrangiert haben. Allgemein geht das Gesundheitsministerium von einer Prävalenz von fünf bis sechs Prozent bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren und drei bis vier Prozent bei Erwachsenen aus. Das entspricht in der Theorie knapp 7 000 jungen Menschen und über 15 000 Erwachsenen im Land. (Bevölkerungszahlen des Statec, Stand September 2023) Daten zu den Rezepten, die für Metylphenidat (der Wirkstoff in den Medikamenten Ritalin oder Medikinet) ausgestellt und in einer Apotheke abgeholt wurden, gibt es hingegen. Während ihre Zahl seit 2013 bei unter 18-Jährigen kontinuierlich sinkt (von insgesamt 1 459 auf 1 201, mit einem kleinen Anstieg nach der Pandemie), steigt sie insgesamt bei Erwachsenen (von 120 in 2013 auf 211 in 2022). Etwa zwei Drittel von ADHS-Diagnostizierten weisen mindestens ein weiteres psychisches Leiden auf, sagt Estelle Thilgen, Neuropsychologin an der „Clinique de l’attention“ im Ettelbrücker CHNP, wo Erwachsene behandelt werden.
Der Ansturm ist groß. Die Neuropädiater im CHL sind derweil von morgens fünf bis abends 22 Uhr beschäftigt, informiert ein dortiger Arzt das Land, als er eine Interviewanfrage aufgrund der Arbeitslast ablehnt. Bei den Behandlungen von Erwachsenen sieht es ähnlich aus. Die „Clinique de l’attention“ in Ettelbrück hat aufgrund der starken Nachfrage einen Anmeldungsstop verhängt. Im Service de consultation et d’aide (SCAP) können bei den Registrierungen zu Beginn jedes Schultrimesters meist nur die Hälfte der interessierten Familien einen Platz bekommen. Soziale Prekarität ist dabei nicht wegzudenken. Jene Familien, die einfach an Informationen und Ressourcen kommen, sind auch in der Unterstützung ihrer Kinder versierter – sei es finanziell, emotional oder intellektuell. „Wir sind uns bewusst, dass eine ganze Reihe Familien durchs Raster fallen, weil unser Angebot nicht besonders niederschwellig ist“, sagt Cathy Mangen, Direktorin des SCAP.
Dass die Prävalenz in der Gesellschaft gestiegen ist, ist unwahrscheinlich. Aber ADHS ist in aller Munde. Heutzutage ermöglichen die sozialen Medien Auto-Diagnosen, auf Tiktok hat #neurodivergent 12,4 Milliarden Ansichten. Gleichzeitig erscheinen vermehrt Bücher wie Indistractable von Nir Eyal oder Stolen Focus von Johann Hari, die unter anderem unseren Mangel an Konzentration und Aufmerksamkeit durch hohe Bildschirmzeit thematisieren. Eine (privilegierte) Riege an Menschen interessiert sich für Digital-Detox-Urlaube, während laut Statec 67 Prozent der 16- bis 24-Jährigen hierzulande angibt, das Internet zu benutzen, um sich bloß nicht zu langweilen. Mit anderen Worten: Aufmerksamkeit ist derzeit ein fragmentiertes Gut für alle. „Fast jeder leidet momentan unter Konzentrationsproblemen, durch Stress oder Medienkonsum. Als Gesellschaft müssen wir das überdenken. Das allein ist jedoch kein ADHS“, sagt Cathy Mangen. Oft identifizierten sich erwachsene Menschen mit Aussagen von anderen Betroffenen, nachdem sie eine Reportage im Fernsehen gesehen haben. „Es kommen auch Menschen, bei denen wir die Diagnose nicht stellen können“, sagt Estelle Thilgen. Sie geht davon aus, dass sich dieses Verhältnis in den kommenden Jahren erhöhen wird. „Es handelt sich um eine neurologische Deregulierung, die man nicht auf einmal bekommen kann.“
Sabrinas Sohn Mark* ist neun Jahre alt. Als Kleinkind war er äußerst stur und hatte Krisen. Was entwicklungspsychologisch nicht ungewöhnlich ist, veränderte sich nach und nach. Im Kindergarten machte sein Verhalten die Lehrerin stutzig. Mark zog sich viel zurück und widersetzte sich kategorisch den zu erledigenden Aufgaben. Neben der Aufmerksamkeit hatte er auch Schwierigkeiten, mit anderen Kindern zurecht zu kommen. „Die Hausaufgaben mit Mark waren und sind oft ein Kampf. Manchmal braucht er drei Stunden für eine Seite.“ Hyperaktiv ist er nicht, befindet sich jedoch auf dem Autismus-Spektrum. Medikamente nimmt er momentan nicht, Sabrina möchte dies vermeiden, solange es geht. Einmal die Woche geht er ins SCAP, um Konzentrationsübungen zu machen und seine Mutter erkennt Fortschritte. Für die Paarbeziehung ist der Umgang mit ihrem Kind eine weitere Herausforderung, da Mutter und Vater andere Herangehensweisen haben, was zu Konflikten führt.
Mit welcher Art von Schwierigkeiten ADHS die Familien belastet, zeigt auch ein Beispiel aus einer ARD-Doku zum Thema mit Eckart von Hirschhausen. Als darin eine Mutter von vier Kindern dem Reporter vor der Kamera erklärt, jetzt sei dank Medikament mit ihrer 13-jährigen Tochter alles bestens, widerspricht diese. „Ich habe überhaupt kein Appetitgefühl mehr, das ist kacke.“ Eine der Hauptnebenwirkungen der Medikamente ist ein Nachlassen des Hungergefühls, viele Kinder und Jugendliche nehmen in der Folge an Gewicht ab.
Sandrines Tochter Jessica hatte zu Beginn Schwierigkeiten, ihre Diagnose anzunehmen. Sie würde am liebsten genauso funktionieren wie die meisten anderen in ihrem Alter – ohne Pille. Eine gewisse Marginalisierung könne mit dem „Stempel“ ADHS einhergehen – allerdings sei das Risiko der Ausgrenzung bei manchen Kindern vor der Diagnose schlimmer, erklärt Cathy Mangen vom SCAP. Besonders wichtig sei es, aufzupassen, dass das Selbstwertgefühl des Kindes nicht anfange zu leiden. Beginnt die Behandlung nicht vor der Pubertät, gebe es die Tendenz, die Hyperaktivität oder andere Symptome zu internalisieren, erörtert Estelle Thilgen.
Sonia arbeitet als Lehrerin, ihr elfjähriger Sohn Matthias hat ADS. Ihr fiel es besonders schwer, ihre Arbeit als Lehrerin von ihrer Identität als Mutter zu trennen. „Warum klappt der Umgang mit den Kindern im Klassensaal, aber mein Sohn funktioniert in der Schule nicht?“, fragte sie sich. Schoul doheem während der Pandemie sei mit ihrem Sohn ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Sein Selbstwertgefühl litt zunehmend. Nachdem die Eltern es zwei Jahre mit Therapie versuchten, nimmt ihr Sohn nun Medikinet: „Es war eine sehr schwierige Entscheidung.“ Sie weinte den ganzen Tag, als sie ihrem Sohn Matthias zum ersten Mal das Medikament verabreichte. Es sei kein Wundermittel, sondern eine kleine Stütze. Es habe Momente gegeben, da habe Matthias gesagt, alles in seinem Körper sei kaputt, er sei behindert. „Ich erkläre ihm, dass das Medikament ihm bei vielem helfen kann – die Motivation jedoch von ihm kommen muss.“ Eltern brauchen in diesem Zusammenhang ebenfalls einen Ort, wo sie ohne Werturteile unterstützt und dadurch gestärkt werden, sagt Sonia.
ADHS hat eine starke genetische Komponente – Wissenschaftler schätzen die Vererbbarkeit auf 75 Prozent. Das Umfeld zählt natürlich auch – ein strukturiertes, harmonisches und liebevolles Zuhause kann einen großen Einfluss haben. Im Umkehrschluss können sogenannte belastende Kindheitserfahrungen und ein chaotisches Umfeld das Außmaß der Störung verstärken. In den Gesprächen mit den betroffenen Familien wird in jedem Fall ersichtlich, dass Mütter sich immer noch stärker in der Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder sehen und dass ihnen gesellschaftlich jegliches reale oder vermeintliche Versagen ihrer Kinder in die Schuhe geschoben wird. „Ich habe mich schon öfter gefragt, was ich falsch gemacht habe“, sagt Sabrina. Interessant ist in diesem Kontext, dass die drei Familien während der Diagnostikphase ihrer Kinder allesamt herausfanden, dass bei den Vätern der Kinder ein starker Verdacht auf ADHS besteht.
Einige Psychologen und Psychiater widersetzen sich der Idee eines Defizits und bevorzugen die Idee einer starken Ausprägung von Eigenschaften. „Es gab durchaus eine evolutionäre Notwendigkeit, dass solche Menschen Teil der Gesellschaft sind“, erklärt Jean-Marc Cloos, Psychiater und medizinischer Direktor des CHDN. Eine Frau, die beispielsweise im Marketing tätig war, sprühte in ihrem Job nur so vor Ideen. Berufe wie Künstler oder Notarzt seien oft interessante Karriereoptionen für Menschen mit Aufmerksamkeitsstörung, weil sie den Drang nach Stimulierung befriedigen und eine starke mentale Flexibilität voraussetzen. Für betroffene Kinder sei der herkömmliche Schulunterricht nicht zufriedenstellend. Estelle Thilgen spricht von Menschen mit hohem Potenzial: „Stehaufmännchen“, die häufig positiv, spontan und kreativ sind.
Die Gratwanderung zwischen einerseits dem Verständnis fürs Kind und andererseits der Vermittlung von Verantwortungsgefühl für das eigene Verhalten sei nicht einfach, findet Sabrina. Was die Eltern eint, ist ein größeres Mitgefühl und Verständnis für ihre Kinder, nachdem sie eine Erklärung in Form einer Diagnose bekamen. Dieses Verständnis spiegelt sich im Verhalten der Kinder zurück. Die Konflikte werden weniger, wenn sie sich gesehen und akzeptiert fühlen.