Die Zielstrebige

d'Lëtzebuerger Land du 20.05.2022

Ihr Büro im Hochhaus auf dem Kirchberg war vor einer Woche erst spärlich eingerichtet. Nur umrahmte Fotos von ihren beiden acht- und zehnjährigen Söhnen stehen auf einer Ablage. An der Wand, auf die sie blickt, wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt, hängt ein großes, buntes Plakat, auf dem die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen aufgelistet sind. Sie hat es von ihrer Vorgängerin geerbt.

Seit 18 Tagen ist Joëlle Welfring (47) nun Ministerin für Umwelt, Klima und nachhaltige Entwicklung. Carole Dieschbourg (44) war am 22. April zurückgetreten, nachdem die Strafverfolgungsbehörde die Untersuchungsakte zur sogenannten „Gaardenhaischen“-Affäre an die Kammer weitergeleitet hatte. Die parteiinterne Suche nach einer Nachfolgerin gestaltete sich zunächst schwierig. Eigentlich wäre der Umweltexperte und Abgeordnete François Benoy ein idealer Kandidat gewesen, doch weil im Zentrumsbezirk der Nächstgewählte Paul Polfer nach der Ceta-Abstimmung vor zwei Jahren aus der grünen Partei ausgetreten war und nicht auf sein Mandat verzichten wollte, hätte die Dreierkoa-lition damit ihre knappe Mehrheit im Parlament aufs Spiel gesetzt. Aus dem gleichen Grund konnte auch Josée Lorsché aus dem Süden nicht neue Umweltministerin werden, denn in dem Bezirk wäre der frühere Vize-Premier Félix Braz nachgerückt, der sich seit seiner Démission honorable in einem Rechtsstreit mit der Regierung befindet. So blieb der Parteileitung fast nur noch der Rückgriff auf eine Quereinsteigerin. Obwohl sie bis vor drei Wochen noch nicht Mitglied der Grünen war, hat Joëlle Welfrings politischer Aufstieg sich seit Jahren angebahnt. Rückblickend könnte man meinen, sie habe ihn minutiös geplant. Wahrscheinlich ist ihre Ernennung aber lediglich die logische Folge ihres jahrzehntelangen Engagements.

Schon als Kind habe sie sich für Umweltschutz interessiert, Bilder von Ölkatastrophen und von Vögeln mit ölverklebtem Gefieder seien ihr bis heute in Erinnerung, erzählt die Ministerin im Gespräch mit dem Land. Sie hätten ihr Ungerechtigkeitsgefühl geweckt und ihr Bewusstsein dafür, wie sehr die Natur unter dem Menschen leide. Nach der Grundschule in Steinbrücken und dem Abitur am Lycée Hubert Clément in Esch/Alzette zog es sie für ein Studium der Biochemie nach Straßburg. In den Sommerferien jobbte sie beim Umweltbüro in Rümelingen, wo sie Flüsse und Bäche kartografierte; bei einer freiberuflichen Biologin fing sie mit Lebendfallen Spitzmäuse und Laufkäfer. Praktika bei der Spuerkeess, wo ihr Vater als Koordinator des Filialnetzwerks im Middle Management tätig war, fand sie weniger spannend. 1998 schloss sie ihren Master in Umweltwissenschaften an der Brunel University im Londoner Vorort Uxbridge ab. Ein Doktorat hätte sie auch noch machen können, doch sie wollte raus der akademischen Welt und rein in die „Realität“.

Zurück in Luxemburg stellte das öffentliche Forschungszentrum CRP Henri Tudor sie ein, wo sie die Umweltabteilung mit aufbaute. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand darin, Handwerksbetrieben, die Schwierigkeiten mit dem Commodo-Gesetz hatten, technische Lösungen anzubieten. Einige Jahre später übernahm sie gemeinsam mit Paul Schosseler, heute Direktionsbeauftragter für nachhaltiges Bauen und Kreislaufwirtschaft im Energieministerium, die Leitung der Umweltabteilung. 2010 wurde sie zur Direktorin für Business Development am CRP Tudor befördert, das sich stärker gegenüber der Privatwirtschaft öffnen wollte. Joëlle Welfring verfügte demnach bereits über eine umfangreiche Praxiserfahrung, als der grüne Staatssekretär im Umweltministerium, Camille Gira, sie 2014 – ohne, dass sie im Besitz einer Parteikarte war – zur stellvertretenden Direktorin der Umweltverwaltung machte. Dort hat sie in den Folgejahren gelernt, wie Vorschriften und Umweltauflagen im Austausch „mat de Leit vum Terrain“ umgesetzt werden können. Sie beschäftigte sich mit Chemikalien, Lärm und Luftqualität. Und wieder vor allem mit Commodo-Genehmigungen.

Der Wechsel zum Staat hat auch ihr Privatleben beeinflusst. Um näher an ihrem neuen Arbeitsplatz in Belval zu sein, zog sie mit ihrer Familie vom hauptstädtischen Bahnhofsviertel ins Clair-Chêne nach Esch/Alzette. Sie sei froh gewesen, wieder zurück in Esch zu sein, wo sie zwar noch nie gewohnt hatte, doch einst zur Schule gegangen war, in ihrer Freizeit Ballett- und Klavierunterricht genommen und Leichtathletik in der Fola getrieben hatte. Schon damals habe sie darüber nachgedacht, sich politisch zu engagieren, aber sie sei dafür noch nicht bereit gewesen, erzählt Joëlle Welfring. Sie hatte gerade ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht, die Zeit und die Energie für Politik hätten ihr gefehlt. Deshalb lehnte sie ab, als Grüne und Linke sie 2016 fragten, ob sie für sie bei den Gemeindewahlen kandidieren wolle.

Ihr gesellschaftliches Engagement reicht indes schon länger zurück. Seit 2009 war sie Mitglied im Verwaltungsrat der Œuvre Nationale de Secours Grande-Duchesse Charlotte. Dort betreute sie vor allem nachhaltige und soziale Projekte in Zusammenarbeit mit der Stadt Esch: Das Centre Formida der Arcus asbl. in der Hiël, die Kreislaufwirtschaft-Initiative Benu im Viertel Grenz, die Gemeinschaftsorte Mesa und Facilitec von Transition Minette. Als Bürgerin beteiligte sie sich an Versammlungen von C.E.L.L. zur nachhaltigen Transformation ihres Stadtviertels und radelte bei den ersten Vélorutions mit. 2016 nahm sie über die Initiative Oppent Haus eine Frau aus Syrien bei sich auf. Als Vizepräsidentin des Conseil supérieur pour un développement durable führte sie in Luxemburg den ökologischen Fußabdruck mit ein. Joëlle Welfring war bislang vor allem als Philanthropin und Unterstützerin im Hintergrund aktiv. Sie engagierte sich unauffällig und diskret, fühlte sich stets auch in höheren gesellschaftlichen Sphären zuhause.

Deshalb hatte sie auch kaum jemand auf der Rechnung, als es darum ging, Carole Dieschbourg zu ersetzen. Erst Anfang April hatte sie den wegen der Superdreckskëscht-Affäre unter Druck geratenen Robert Schmit an der Spitze der Umweltverwaltung abgelöst. Vor drei Wochen musste es dann ganz schnell gehen. Nach ihrer Demission hätten Carole Dieschbourg und „noch ein paar Andere“ – vornehmlich grüne Regierungsmitglieder – sie angerufen und gefragt, ob sie das Umweltressort übernehmen wolle. Sie erbat sich einige Tage Bedenkzeit, um sich mit grundlegenden Fragen auseinanderzusetzen: „Will ich das? Kann ich das? Was erwarte ich mir davon und was kann ich realistischerweise damit erreichen?“ Sie erstellte eine Liste mit Pros und Contras, die sie mit ihrer Familie durchging. Was Carole Dieschbourg passiert sei, habe auch ihr selbst sehr zugesetzt, erzählt Joëlle Welfring.

Für sie und ihre Partei den Ausschlag gegeben hat vor allem, dass sie viele Dossiers bereits kennt und sich nicht erst lange einarbeiten muss. Die neuen Abfallgesetze, mit denen strengere Regeln für Bürger und Betriebe eingeführt werden, wurden von der Umweltverwaltung mit ausgearbeitet. Gleiches gilt für das geplante Update des Nationalen Klimaplans. Das Commodo-Gesetz, mit dessen Reform die Prozeduren digitalisiert und vereinfacht werden sollen, ist seit Jahren ihr Spezialgebiet. Weniger Erfahrung hat sie, wenn es um die Umsetzung der Trinkwasserdirektive oder das neue Waldgesetz geht.

In all diesen Bereichen wird sie viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Der Staat habe nicht alle Lösungen parat, Kreativität und Innovation aus der Privatwirtschaft seien jetzt gefragt, betont Joëlle Welfring. Wie man mit Stakeholdern umgeht, Ideen verkauft und Menschen für eine Sache gewinnt, habe sie am CRP Tudor gelernt. Neu ist für sie vor allem noch die politische Auseinandersetzung in der Abgeordnetenkammer. Wird sie den rüden Attacken der Opposition gewachsen sein? Über diese Frage habe sie lange nachgedacht, sagt die Ministerin. Ob man jemals ein dickes Fell bekommt, wisse sie nicht, aber vielleicht lerne man, damit umzugehen.

Rund 80 Mitarbeiterinnen zählt das Ministerium für Umwelt, Klima und nachhaltige Entwicklung. Management ist ihr nicht fremd, doch einen so großen Betrieb hat Joëlle Welfring noch nicht geleitet. In der Affäre Gaardenhaischen wurde von Beginn an gemutmaßt, einige Beamte würden eine Mitverantwortung tragen. Ob dem so ist, werden die Ermittlungen zeigen. Die von Reporter geäußerte Behauptung, sie wolle das Ministerium umorganisieren, weist die Ministerin zurück. Aus der Umweltverwaltung wird sie, Land-Informationen zufolge, lediglich Marianne Mousel als Erste Regierungsrätin, ihre Sekretärin und eine Referentin für Öffentlichkeitsarbeit mitnehmen. Den Kommunikationsexperten Thomas Schoos (Maison Moderne, Binsfeld, List), den Dieschbourg im März 2021 zu ihrem persönlichen Berater gemacht hat, wolle sie vorerst behalten. Für eine große Umstrukturierung des Ministeriums bleibe keine Zeit, erklärt Joëlle Welfring, bis zu den Wahlen sind es nicht einmal mehr anderthalb Jahre.

Politische Ziele und Ambitionen für 2023 hat sie durchaus. Nach dem Ausscheiden von Félix Braz und Roberto Traversini könnte sie das neue Gesicht der Grünen im Südbezirk werden. Bei ihren Parteikolleginnen genießt sie jetzt schon hohes Ansehen. „Sie ist eine Frau, die weiß, was sie will: strategisch, zielstrebig und enorm fleißig“, meint Ko-Präsidentin Djuna Bernard gegenüber dem Land. Als „bestimmt, aber nett“, hat Fraktionspräsidentin Josée Lorsché sie kennengelernt. Bei Transition Minett hat man sie als anspruchsvoll in Erinnerung, doch sie stelle stets die richtigen Fragen. In den nächsten Monaten muss die bedächtige und öffentlichkeitsscheue Joëlle Welfring sich aber neue Kompetenzen aneignen, wenn sie ihre Partei als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf führen will. Einladungen von Djuna Bernard für den Käler Blummemoart und von Josée Lorsché für ein Familienfest der Grünen hat sie am Wochenende abgelehnt. Besuche von Volksfesten gehörten zwar dazu, aber zurzeit wolle sie sich erst einmal auf die Dinge konzentrieren, die sie in ihrer Arbeit weiterbringen. Am Wochenende brauche sie ab und an eine Pause, das habe sie sich und ihrer Familie versprochen.

Was tut sie, wenn sie oder die Grünen 2023 nicht mehr in die Regierung kommen? „Das ist eine spannende Frage“, antwortet Joëlle Welfring. Für diesen Fall wolle sie sich mehrere Optionen offen lassen. Dass Oppositionsleaderin im Parlament eine davon ist, scheint wegen ihrer mangelnden politischen Erfahrung eher unwahrscheinlich. Es sei noch zu früh, um darüber zu reden, sie müsse das erst einmal kennenlernen. Ausschließen wolle sie nichts.

Vielleicht ist Joëlle Welfring wegen ihrer zurückhaltenden Art aber besser als Kandidatin für die Europawahl geeignet. An die EU hat sie jedenfalls gute Erinnerungen. 2005, als Luxemburg den Ratsvorsitz hatte, war sie mit ihrem heutigen Ersten Regierungsrat André Weidenhaupt an der Ausarbeitung der Verordnung für die Chemikaliengesetzgebung beteiligt. Es sei super interessant gewesen, hinter die Kulissen der EU zu blicken, berichtet die Ministerin begeistert. Und es sei beeindruckend gewesen, wie all die Vertreter mit unterschiedlichen fachlichen und kulturellen Backgrounds am Ende einen gemeinsamen Kompromiss finden konnten.

Luc Laboulle
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